StVG § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3, S. 6 Nr. 1, Abs. 6 S. 1; VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1
Leitsatz
Nach § 4 Abs. 5 S. 6 Nr. 1 StVG werden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Diese Vorschrift soll die Punktebewertung eines Verkehrsverstoßes auch dann ermöglichen, wenn er vor dem Ergreifen einer Maßnahme begangen wurde, bei dieser Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnte, beispielsweise weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie erst später im Fahreignungsregister eingetragen oder der Behörde zur Kenntnis gelangt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.1.2017 – 3 C 21.15 –, juris, Rn 24). Es kommt somit nicht darauf an, ob durch die Maßnahmen eine effektive Verhaltensänderung des Betroffenen herbeigeführt werden konnte.
Das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, soll Vorrang vor dem Erziehungsgedanken haben. (Leitsatz der Schriftleitung)
VG Koblenz, Beschl. v. 19.7.2023 – 4 L 577/23.KO
1 Aus den Gründen:
"Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg.
Der bei verständiger Würdigung des Antragsbegehrens (§ 122 Abs. 1, § 88 VwGO) hinsichtlich der gemäß § 4 Abs. 9 StVG i.V.m. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO sofort vollziehbaren Fahrerlaubnisentziehung auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers und hinsichtlich der für sofort vollziehbar erklärten Aufforderung zur Abgabe des Führerscheins auf deren Wiederherstellung gerichtete Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 1 und 2 VwGO zulässig, aber unbegründet.
1. Bei der vom Gericht zu treffenden eigenen Interessenabwägung nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO überwiegt das öffentliche Interesse am Vollzug der Fahrerlaubnisentziehung das Interesse des Antragstellers, die Fahrerlaubnis vorläufig behalten zu dürfen. Denn die Fahrerlaubnisentziehung erweist sich bei der in Eilverfahren angezeigten summarischen Prüfung als offensichtlich rechtmäßig.
Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3 StVG. Danach gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen, wenn sich nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem ein Stand von acht Punkten oder mehr ergibt.
Diese Voraussetzung lag zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Entziehung der Fahrerlaubnis vor. Ausweislich der in der Verwaltungsakte befindlichen Unterrichtung durch das Kraftfahrbundesamt hatte der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt einen Punktestand von acht Punkten erreicht.
Zudem hat die Antragsgegnerin die Voraussetzungen des § 4 Abs. 6 S. 1 StVG beachtet und die nach § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 und 2 StVG vorgesehenen Maßnahmen ergriffen. Sie hat den Antragsteller mit Schreiben vom 28.3.2023 bei einem Punktestand von vier Punkten ermahnt und bei einem Punktestand von sieben Punkten mit Schreiben vom 16.5.2023 verwarnt.
Der Antragsteller kann mit seinen hiergegen gerichteten Einwänden nicht durchdringen. Er macht geltend, er habe aufgrund der zeitlichen Abläufe bei Erhalt des Ermahnungsschreibens vom 28.3.2023 bzw. des Verwarnungsschreibens vom 16.5.2023 keine Möglichkeit mehr gehabt, die Verstöße aus dem Oktober und November des vergangenen Jahres ungeschehen zu machen und sein Verhalten zu ändern. Der Sinn und Zweck der Schreiben könne deshalb nicht mehr erreicht werden.
Dem steht § 4 Abs. 5 S. 6 Nr. 1 StVG entgegen. Danach werden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Diese Vorschrift soll die Punktebewertung eines Verkehrsverstoßes auch dann ermöglichen, wenn er vor dem Ergreifen einer Maßnahme begangen wurde, bei dieser Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnte, beispielsweise weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie erst später im Fahreignungsregister eingetragen oder der Behörde zur Kenntnis gelangt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.1.2017 – 3 C 21.15 –, juris, Rn 24). Es kommt somit nicht darauf an, ob durch die Maßnahmen eine effektive Verhaltensänderung des Betroffenen herbeigeführt werden konnte. Entsprechendes ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung:
Zitat
Es kommt nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem demnach nicht darauf an, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit zur Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Denn das neue System kennt keine verpflichtende Seminarteilnahme und versteht den Erziehungsgedanken damit auch nicht so, dass jede einzelne Maßnahme den Fahrerlaubnis-Inhaber individuell ansprechen können muss in dem Sinne, dass nur sie die Verhaltensbeeinflussung bewirken kann. Die Erziehungswirkung liegt vielmehr dem Gesamtsystem als solchem zu Grunde, während die Stufen in erster Linie der Information des Betroffenen dienen. Die Maßnahmen stellen somit lediglich eine Information über den Stand im System dar.' (v...