StVG § 17, StVO § 1
Leitsatz
Die Pflicht, beim Überholen einer Kolonne im Falle einer sich auftuenden Lücke wegen des dann häufig zu gewärtigenden Querverkehrs besonders besonnen und rücksichtsvoll zu fahren und nicht auf die Einhaltung der eigenen Vorfahrt zu vertrauen (sog. Lückenrechtsprechung), besteht nicht im Fall des bloßen Vorbeifahrens an einem in zweiter Reihe vor einer Grundstückseinfahrt stehenden Lkw.
BGH, Urt. v. 4.6.2024 – VI ZR 374/23
1 Sachverhalt
[1] Der Kläger begehrt von den Beklagten den Ersatz von Sachschaden nach einem Verkehrsunfall.
[2] Der Beklagte zu 1 befuhr am 22.7.2021 gegen 17.30 Uhr mit einem vom Beklagten zu 2 gehaltenen und bei der Beklagten zu 3 versicherten Pkw die in beide Fahrtrichtungen jeweils einspurige K.-Straße in N. Unmittelbar vor der Ein- und Ausfahrt zu einem Unternehmensgelände befand sich in Fahrtrichtung des Beklagten zu 1 ein Lkw am rechten Fahrbahnrand. Der Beklagte zu 1 fuhr, da kein Gegenverkehr nahte, unter teilweiser Mitbenutzung der Gegenfahrbahn links an dem Lkw vorbei. Rechts neben der Fahrbahn in Fahrtrichtung des Beklagten zu 1 befanden sich Längsparkplätze. Der Kläger hatte mit seinem Pkw zunächst auf einem dieser Parkplätze vor der Firmenzufahrt geparkt und beabsichtigte, auf die gegenüberliegende Seite umzuparken. Auf der Höhe der Firmenzufahrt kam es zur Kollision der beiden Fahrzeuge, wobei sich jedenfalls das Fahrzeug des Beklagten zu 1 in Bewegung befand.
[3] Das Landgericht hat der Klage auf Grundlage einer Mitverschuldensquote von 75 % zu Lasten des Klägers teilweise stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen; die Berufung des Klägers hat es zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Schadensersatzbegehren in vollem Umfang weiter.
2 Aus den Gründen:
[4] I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts (zfs 2024, 86) ist im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG auf Seiten des Klägers ein Verstoß gegen die Sorgfaltsanforderungen nach § 10 Satz 1 (Einfahren und Anfahren) und § 9 Abs. 5 StVO (Wenden) zu berücksichtigen. Denn der Kläger sei aus seiner Längsparkbucht am rechten Straßenrand rechts an dem stehenden Lkw vorbei teilweise über den Gehweg in den Bereich der Firmenzufahrt gefahren, um zu wenden und letztlich auf der anderen Straßenseite wieder einzuparken. Komme es wie im Streitfall im Zusammenhang mit einem solchen Fahrmanöver zu einem Unfall, spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Anfahrende bzw. Wendende schuldhaft gegen diese Sorgfaltsanforderungen verstoßen habe. Diesen Anscheinsbeweis habe der Kläger weder erschüttert noch entkräftet.
[5] Dagegen sei dem Beklagten zu 1 kein Sorgfaltspflichtverstoß vorzuwerfen. Entgegen der Annahme des Landgerichts habe der Beklagte zu 1 nicht gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot (§ 1 Abs. 2 StVO) verstoßen. Für den im vorrangigen fließenden Verkehr fahrenden Beklagten zu 1 sei nicht erkennbar oder vorhersehbar gewesen, dass der Kläger seinen Vorrang missachten werde. Etwas anderes folge auch nicht aus der Rechtsprechung zu den sog. Lückenfällen, wonach derjenige, der eine Kolonne von Fahrzeugen überhole, die aber eine Lücke gelassen habe, grundsätzlich damit rechnen müsse, dass aus dieser Lücke ein anderes Fahrzeug auf seine Fahrbahn fahre. Denn diese Rechtsprechung setze zum einen die Erkennbarkeit der Lücke für den die Kolonne im fließenden Verkehr Überholenden voraus, die hier nach den Umständen des Falles nicht gegeben gewesen sei, und sei zum anderen auf den vorliegenden Sachverhalt des Vorbeifahrens an einem in zweiter Reihe stehenden Lkw nicht übertragbar.
[6] Im Ergebnis trete die allgemeine Betriebsgefahr des Pkw des Beklagten zu 1 hinter den zweifachen Sorgfaltspflichtverstoß des Klägers vollständig zurück.
[7] II. Diese Erwägungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung stand. Das Berufungsgericht hat den vom Kläger geltend gemachten Anspruch aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG in Verbindung mit § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG frei von Rechtsfehlern verneint. Die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1, § 18 Abs. 3 StVG sind nicht zu beanstanden.
[8] 1. Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG ist – wie bei § 254 BGB – grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob der Tatrichter alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt hat. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beider...