RA Jörg Elsner
Für Anwälte ist es ein Ärgernis, für Geschädigte häufig ein finanzielles Problem. Versicherer handhaben es mit der normativen Kraft des Faktischen: Die Sechs-Monatsfrist nach der BGH-Rechtsprechung.
Wir wissen vom BGH, dass diese Zeitdauer für das Erfordernis der "Weiterbenutzung" angemessen und ausreichend ist. Voraussetzung ist die Weiterbenutzung zur Geltendmachung des Reparaturaufwandes zum einen bei fiktiver Abrechnung mit Reparaturkosten unter dem Wiederbeschaffungswert und zum anderen bei vollständiger und fachgerechter Reparatur mit Kosten zwischen 100 % und 130 % des Wiederbeschaffungswertes.
Mit der Entscheidung über die Dauer ist aber noch nichts zu der Fälligkeit des Anspruchs gesagt. Hat der Geschädigte sofort Anspruch auf den höheren Reparaturaufwand und muss der Haftpflichtversicherer die Differenz zum Wiederbeschaffungsaufwand zurückzahlen, wenn das Fahrzeug vor Ablauf der Frist veräußert wird? Oder wird die Differenz zum Reparaturaufwand erst nach Ablauf der sechs Monate fällig?
Für mich ist die Frage eindeutig nach der ersten Alternative zu beantworten. Das will ich aber – juristenuntypisch – hier nicht begründen, weil es auch nicht in ein Editorial gehört. Die zweite Alternative ist ausschließliche Praxis der Versicherer: Freiwillig wird die Differenz vor Ablauf der sechs Monate nicht gezahlt. Warum eigentlich nicht?
Steht denn jeder Geschädigte unter Generalverdacht, dass man ihm seine Aussage zum Weiterbenutzungswillen nicht glaubt? Sogar dann nicht, wenn er in ein Fahrzeug mit 10.000 EUR Wiederbeschaffungswert 13.000 EUR Reparaturkosten steckt? Meint der Versicherer, der als Wiederbeschaffungsaufwand bei einem Restwert von 3.000 EUR nur 7.000 EUR zahlt, wirklich, den Geschädigten auf ca. 360 EUR Dispozinsen sitzen lassen zu können, wenn der überhaupt die erforderlichen 6.000 EUR so finanziert bekommt? Ist es etwa üblich oder gar nur häufig, dass in solch einem Fall vor Ablauf der Frist eine Veräußerung erfolgt?
Nicht wirklich!
Handelt er dann etwa aus Boshaftigkeit oder finanzieller Raffgier, Raubtierkapitalismus pur?
Auch nicht wirklich!
Ein Raubtier kann auch der Geschädigte in seiner Form als Verbraucher sein, zwar nur ein ganz kleines, in Massen auftretend aber mit großer Macht. Er bleibt heute eben nicht mehr "seinem Versicherer" treu, sondern holt aus Preisvergleichen den letzten Cent heraus und wechselt vielleicht sogar jedes Jahr. Der 30.11. als Kündigungstermin wird für Versicherer schon zum Trauma.
Sparsam wirtschaften ist da schon verständlich, es darf aber nicht auf Kosten der Rechte und Ansprüche der Geschädigten gehen. Entgegen der Terminologie des Schadenmanagements der Versicherer ist der Geschädigte eben nicht deren Kunde, mit dem man über den Leistungsumfang verhandeln könnte. Seine Ansprüche dürfen nicht nach Gutsherrenart gekürzt werden.
Es droht die Gefahr, dass die Versicherer mit der aggressivsten Regulierungspraktik im Kampf um den Kunden die niedrigsten Preise anbieten können. Eigentlich dürfte dies gar nicht funktionieren, wenn unberechtigte Kürzungen zu vermehrten Prozessen und damit zu höheren Kosten führen. Dieses Korrektiv funktioniert aber dann nicht, wenn Geschädigte direkt mit dem gegnerischen Versicherer abrechnen. Niemand sagt ihnen, was ihnen vorenthalten wird. Es droht dann ein Wettlauf der Versicherer bei der Leistungskürzung, dem sich dann auch wohlmeinende Versicherer nicht entziehen können.
Es ist damit nicht ein Generalverdacht gegen den Geschädigten, sondern – noch schlimmer – seine Reduzierung auf den größten Kostenfaktor, die die Regulierungspraktik prägt. Die Anwaltschaft kann und muss dagegenhalten, da nur teurere Prozesse die Gewinnsituation beeinflussen können. Gegen unberechtigte Abzüge muss nach aller Möglichkeit schnell geklagt werden und selbst wenn sie ganz gering sind oder wenn sich der Streit nur auf einen Sechs-Monatszeitraum bezieht. Dabei muss auch an diejenigen gedacht werden, die sich einen Streit nicht leisten können und die durch die Regulierungspraktik wegen fehlender finanzieller Mittel schon von vornherein abgehalten werden, die 130 % Rechtsprechung in Anspruch zu nehmen. Es geht dabei auch darum, dass eine aggressive Regulierungspraktik sich nicht auszahlen darf.
Die Rechtsprechung muss die Fragen abschließend klären. Denn nur wenn alle Versicherer gleichermaßen belastet werden, gibt es keinen Preiskampf auf Kosten der Geschädigten.
RA Jörg Elsner, Hagen