ZPO § 286
Leitsatz
1) Auch für Verletzungen bei Frontalkollisionen ist eine "Harmlosigkeitsgrenze" auf Grund geringer kollisionsbedingter Geschwindigkeitsänderung ungeeignet, die Annahme einer Verletzung der Halswirbelsäule trotz entgegenstehender konkreter Hinweise auf eine entsprechende Verletzung generell auszuschließen.
2) Eine tatrichterliche Würdigung, die sowohl darauf abstellt, das ein enger Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Auftreten von Beschwerden im Halswirbelsäulenbereich vorliegt und der von dem untersuchenden Arzt getroffenen Feststellung einer eingeschränkten Rotation der Halswirbelsäule, kann die Feststellung tragen, dass das Unfallereignis eine mit dem Beweismaß des § 286 ZPO nachzuweisenden Verletzung der Hauswirbelsäule zur Folge hatte.
(Leitsätze der Schriftleitung)
BGH, Urt. v. 8.7.2008 – VI ZR 274/07
Sachverhalt
Der Kläger macht aus übergegangenem Recht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall der Polizeibeamtin L geltend.
Am 7.10.2003 bog die Beklagte zu 1) mit ihrem bei der Beklagten zu 2) versicherten Pkw aus einem Parkplatz kommend auf die daran vorbeiführende Vorfahrtsstraße ein, ohne auf den von links herannahenden bevorrechtigten Pkw der Beamtin L zu achten. Trotz einer Vollbremsung stieß L mit der Frontseite ihres Fahrzeugs gegen die linke Seite des Pkw der Beklagten zu 1). Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist außer Streit. Die Zeugin L, die vor dem Unfall beschwerdefrei war, suchte am 9.10.2003 wegen Nacken- und Kopfschmerzen ihren Hausarzt Dr. G auf, der wegen der eingeschränkten Rotation der Halswirbelsäule eine radiologische Untersuchung veranlasste und Tabletten verordnete. Die radiologische Untersuchung erbrachte keinen krankhaften Befund. Am 20.10.2003 suchte L erneut Dr. G auf und klagte über fortdauernde Kopfschmerzen, körperliche Bewegungsbeeinträchtigungen sowie ein andauerndes Unwohlgefühl. Dr. G schrieb daraufhin L bis zum 2.11.2003 arbeitsunfähig und verordnete physiotherapeutische Behandlungen. Der Kläger erbrachte hierfür Heilfürsorgeleistungen und zahlte an L für den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit die Dienstbezüge weiter. Er behauptet, L habe durch den Zusammenstoß ein HWS-Schleudertrauma erlitten und sei dadurch vorübergehend arbeitsunfähig geworden. Die Beklagten hätten deshalb die entstandenen Kosten von insgesamt 1.622,69 EUR zu erstatten.
Das AG hat die Zeugin L vernommen und der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das LG unter Zugrundelegung der Aussage der erneut vernommenen Zeugin L und des behandelnden Arztes Dr. G sowie des Inhalts der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zur Klärung der Frage zugelassen, ob auch bei einer Frontkollision die Grundsätze des Senatsurt. v. 28.1.2003, VersR 2003, 474 ff., dem ein Heckanstoß zu Grunde lag, Anwendung finden können. Die Beklagten begehren mit der Revision weiterhin die Abweisung der Klage.
Aus den Gründen
[4] “I. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, dass die von L geklagten Beschwerden auf den Verkehrsunfall zurückzuführen seien, auch wenn durch den Frontanstoß die Geschwindigkeit des Pkw der Zeugin L nur geringfügig geändert worden sei. Die Einholung eines unfallanalytischen und eines biomechanischen Gutachtens zu der Frage, ob der Unfall generell geeignet gewesen sei, eine HWS-Verletzung hervorzurufen, sei nach den Grundsätzen des Urteils des BGH vom 28.1.2003 (VI ZR 139/02) nicht erforderlich. Allein der Umstand, dass es bei einem Unfall nur zu einer geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung gekommen sei (“Harmlosigkeitsgrenze’), schließe die tatrichterliche Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO von der Ursächlichkeit eines Unfalls für eine HWS-Verletzung auf der Grundlage konkreter Fallumstände nicht aus. Gesicherte medizinische Erkenntnisse zu der Frage, ob und in welcher Weise im Einzelfall Muskelanspannungen und Kopfdrehungen die Entstehung einer HWS-Distorsion beeinflussen könnten, fehlten für Heck- und Frontanstöße in gleicher Weise. Stets seien die Umstände des Einzelfalles entscheidend. Habe sich der Tatrichter danach die erforderliche Überzeugung gebildet, seien weitere Begutachtungen entbehrlich. Die Zeugin L sei durch den Unfall an der Halswirbelsäule verletzt worden und infolge dieser gesundheitlichen Beeinträchtigung arbeitsunfähig geworden. Die Schilderungen der Zeugin L über ihren Gesundheitszustand seien glaubhaft und vereinbar mit den Bekundungen des behandelnden Arztes Dr. G über das Ergebnis seiner Untersuchungen am 9. und 20.10.2003. Auch wenn sich Dr. G nicht mehr konkret an tastbare Verspannungen im Nackenbereich erinnern könne, sei davon auszugehen, dass solche vorgelegen hätten, obwohl sie in den ärztlichen Unterlagen nicht dokumentiert worden seien. Dr. G würde nach seinen Angaben Tastbefunde, die regelmäßig bei HWS-Beschwerden aufträten, nicht besonders dokumentieren. N...