GG Art. 103 Abs. 1, ZPO § 544 Abs. 7
Leitsatz
Wird ein Sachverständiger, ohne dass er vorher ein den Parteien zur kritischen Würdigung zugängliches schriftliches Gutachten erstattet hat, in der mündlichen Verhandlung zu schwierigen Sachfragen ausführlich gehört, muss jeder Partei Gelegenheit gegeben werden, nach Vorliegen des Protokolls über die Beweisaufnahme zum Beweisergebnis Stellung zu nehmen. Gibt die Stellungnahme Anlass zur weiteren tatsächlichen Aufklärung, ist die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen.
BGH, Beschl. v. 12.5.2009 – VI ZR 275/08
Sachverhalt
Ein Sachverständiger, der zuvor kein schriftliches Gutachtern erstattet hatte, nahm in der mündlichen Verhandlung eine komplizierte Rekonstruktion des Unfallereignisses vor. Einen nachgelassenen Schriftsatz nahm das BG nicht zum Anlass einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, obwohl der Kläger und Revisionsführer Widersprüche zwischen den Anknüpfungstatsachen des mündlich erstatteten Gutachtens und den Feststellungen der Polizei aufzeigte und den Berechnungen des Gutachters entgegen trat. Der BGH sah darin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zum Nachteil des Klägers und gab der Nichtzulassungsbeschwerde statt.
Aus den Gründen
Aus den Gründen: [1] „1. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gem. § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das BG. Das BG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es die Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 29.4.2008 nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt und rechtsfehlerhaft von einer ergänzenden Begutachtung oder Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen abgesehen hat.
[2] a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebotes verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (vgl. BVerfGE 50, 32, 35; 60, 247, 249; NJW 2003, 1655; BGH, Beschl. v. 7.12.2006 – IX ZR 173/03 – VersR 2007, 666; vom 12.12.2007 – IV ZR 178/06 – VersR 2008, 483).
[3] b) So verhält es sich im Streitfall. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet mit Erfolg, dass das BG von einer ergänzenden Begutachtung oder Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen abgesehen hat, obwohl der Kläger im Schriftsatz vom 29.4.2008 sowohl die Berechnungen des Sachverständigen konkret infrage gestellt als auch einen Widerspruch zwischen den Ausführungen des Sachverständigen und den vor Ort getroffenen Feststellungen der Polizei aufgezeigt hat.
[4] aa) Der Sachverständige, der zuvor kein den Parteien zur kritischen Würdigung zugängliches schriftliches Gutachten erstattet hatte, hat im Rahmen seiner erstmaligen Beurteilung des Unfallhergangs in der mündlichen Verhandlung vor dem LG vom 3.4.2008 ausgeführt, es müsse davon ausgegangen werden, dass sich der Beklagte zu 1) nach vorne bzw. nach vorne rechts orientiert und damit gerechnet habe, den Überweg problemlos passieren zu können. Gehe man davon aus, dass der Kläger sein Fahrrad überbremst habe, was aus sachverständiger Sicht nachvollziehbar sei, sei er innerhalb bzw. unterhalb der Reaktionsdauer des Beklagten zu 1) in dessen Fahrbahn gelangt, sodass dieser keine Unfall vermeidende Reaktion mehr habe einleiten können. Der Sachverständige hat seiner Beurteilung des Unfallhergangs “nachvollziehbare Geschwindigkeiten von ca. 50 km/h im Kollisionsmoment’ sowie zwei alternative Berechnungen zu Grunde gelegt, in denen er von Geschwindigkeiten des Beklagten zu 1) von 48,5 bzw. 50,17 km/h ausgegangen ist. Mit diesen Ausführungen und Berechnungen wurden die Parteien erstmals in der mündlichen Verhandlung konfrontiert, weshalb der Kläger ein Schriftsatzrecht zur Stellungnahme zum Beweisergebnis beantragt und erhalten hat.
[5] bb) Im daraufhin eingereichten Schriftsatz vom 29.4.2008 hat der Kläger mit näherer Begründung geltend gemacht, dass sich – ausgehend von der von der Polizei festgestellten Endstellung des Fahrzeugs des Beklagten zu 1), die laut Unfallskizze im Polizeibericht 25 m hinter der Fixpunktlinie in Höhe des Ampelmastes liege, und des vom Sachverständigen in seiner ersten Berechnung (Geschwindigkeit von 48,5 km/h) ermittelten Anhaltewegs des Beklagten zu 1) von 30,07 m – der Reaktionspunkt des Beklagten zu 1) mindestens 5 m vor der Fixpunktlinie und damit mindestens 6 m vor dem Radweg befinde. Dies bedeute, dass der Beklagte zu 1) deutlich vor dem Ampelmast und erst recht vor dem Radweg reagiert habe und er den Kläger entge...