BGB § 823; ZPO § 286
a) Der Umstand, dass bei der konkreten Behandlung (hier: PRT) über eine Querschnittslähmung noch nicht berichtet worden ist, reicht nicht aus, dieses Risiko als lediglich theoretisches Risiko einzustufen und eine Aufklärungspflicht zu verneinen.
b) Liegen der Beurteilung des gerichtlichen Sachverständigen medizinische Fragen zu Grunde, muss der Richter mangels eigener Fachkenntnisse Unklarheiten und Zweifel bei den Bekundungen des Sachverständigen durch eine gezielte Befragung klären.
BGH, Urt. v. 6.7.2010 – VI ZR 198/09
Der Kläger nimmt den Beklagten nach einer am 22.8.2001 in dessen orthopädischer Praxis durchgeführten CT-gestützten periradikulären Therapie (PRT) im Bereich der Nervenwurzel C 7 links auf Schadensersatz in Anspruch.
Nach erfolglosen konservativen Behandlungen stellte sich der Kläger am 16.8.2001 bei dem Beklagten vor, der eine Kernspintomografie der Halswirbelsäule veranlasste. Die Untersuchung ergab Anzeichen für einen Verschleiß im Bereich der Wirbelsäule in Höhe C 5/6. Zudem wurden eine Protrusion (Vorwölbung) mit Wurzelbedrängung in Höhe C 7 links und ein konstitutionell grenzwertig enger Spinalkanal diagnostiziert.
Der Beklagte empfahl die Durchführung einer PRT. In der vom Kläger am 17.8.2001 unterzeichneten Einverständniserklärung heißt es zu den Risiken des Eingriffs u.a.: "Als Komplikation ist bei einigen wenigen Patienten eine längerfristige Lähmung eingetreten, die sich jedoch wieder vollständig rückbildete."
Am 22.8.2001 wurde die PRT vom Beklagten durchgeführt. Der Kläger hatte unter diesem Datum auch eine Einverständniserklärung zur Periduralanästhesie oder "Standby" bei "Periradikulärer Therapie (PRT)" unterzeichnet. In dieser Einverständniserklärung heißt es u.a.: "Lähmungen (auch Querschnittslähmungen) nach Blutungen, Entzündungen oder direkten Nervenverletzungen sind extrem selten."
Bei Durchführung der PRT kam es zu Komplikationen. Beim Kläger traten eine akute Tetraplegie und eine starke Atemnot ein. Durch den in Standby-Bereitschaft anwesenden Anästhesisten erfolgte eine notfallmäßige Intubation und Verlegung in das Allgemeine Krankenhaus B, wo der Kläger intensivmedizinisch versorgt wurde. Obgleich er anschließend bis November 2002 im Universitätskrankenhaus E und im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus H behandelt wurde, blieb die Tetraplegie irreversibel, sodass der Kläger schwerstbehindert und zu 100 % erwerbsunfähig ist.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers wurde zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, weil klärungsbedürftig sei, inwieweit aus Rechtsgründen von der Einschätzung eines gerichtlichen Sachverständigen abgewichen werden darf, der aus medizinischer Sicht den Hinweis auf ein theoretisch bestehendes Risiko für erforderlich hält. Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Ansprüche unter dem Gesichtspunkt einer Aufklärungspflichtverletzung wegen der nicht erfolgten Aufklärung über das Risiko einer Querschnittslähmung weiter.
Aus den Gründen:
[7] I. “Nach Auffassung des Berufungsgerichts führt der Umstand, dass der Kläger, wie das LG unbeanstandet festgestellt habe, über das Risiko einer dauerhaften Querschnittslähmung nicht aufgeklärt worden sei, nicht zu einer Haftung des Beklagten. Nach dem maßgeblichen Kenntnisstand zum Zeitpunkt des Eingriffs sei der Beklagte weder verpflichtet gewesen, über das Risiko einer Querschnittslähmung bei Durchführung einer PRT aufzuklären, noch habe eine generelle Aufklärungspflicht über das Risiko einer Querschnittslähmung bei wirbelsäulennahen Injektionen bestanden.
[8] Zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen Eingriffs sei weltweit erst einmal in der amerikanischen Schmerztherapie-Zeitschrift ‘Pain’ im April/Mai 2001 über Querschnittslähmungen bei diagnostischer oder therapeutischer Wurzelinfiltration berichtet worden. Der Beklagte habe zudem Fachliteratur zitiert, in der ein solches Risiko bei Durchführung einer PRT oder entsprechenden Maßnahmen nicht erwähnt sei. Er habe außerdem unwidersprochen geltend gemacht, dass auch Kollegen im Jahre 2001 bei Durchführung einer PRT nicht über dieses Risiko aufgeklärt hätten. Erst ab dem Jahr 2002 sei auf die Gefahr einer Querschnittslähmung bei Durchführung einer PRT hingewiesen worden. Die Veröffentlichung in der Zeitschrift ‘Pain’ habe ein niedergelassener Orthopäde als nicht fachspezifische Publikation nicht zeitnah zur Kenntnis nehmen müssen.
[9] Es habe auch keine generelle Verpflichtung bestanden, über das Risiko einer Querschnittslähmung aufzuklären. Zwar habe der gerichtliche Sachverständige die Ansicht vertreten, dass es sich bei der Querschnittslähmung im Jahr 2001 nicht um eine typische, aber um eine denkbare, wenn auch extrem seltene Komplikation handele, auf welche der Kläger wegen der damit verbundenen enormen Tragweite aus medizinischer Sicht hätte hingewiesen werden müssen. Es habe sich dabei aber um eine lediglich theoretisch bestehende Möglichkeit des Auftretens einer Komplikation gehandelt, über die ...