GG Art. 20 Abs. 3
Leitsatz
Die Fürsorgepflicht als Unterfall und Konkretisierung des Fairnessprinzips ist ein selbstständiges Institut des Strafverfahrens und des Ordnungswidrigkeitenrechts. Sie soll den Verfahrensbeteiligten die Wahrnehmung ihrer prozessualen Befugnisse ermöglichen und kann es über die positiv rechtlich geregelten Fälle hinaus erfordern, namentlich beim unverteidigten Betroffenen durch Belehrungen, Hinweise, Rückfragen und Warnungen die sachgerechte Ausübung prozessualer Befugnisse anzuregen. Auch ergibt sich aus ihr die Pflicht, auf eine sachgerechte Antragstellung hinzuwirken. Des Weiteren dient sie dem Schutz vor Überraschungsentscheidungen.
(Leitsätze der Schriftleitung)
OLG Bamberg, Beschl. v. 8.6.2011 – 3 Ss OWi 692/2011
Sachverhalt
Die Zentrale Bußgeldstelle im Bayerischen Polizeiverwaltungsamt verhängte gegen die Betroffene wegen einer als Führerin eines Pkw begangenen fahrlässigen Ordnungswidrigkeit der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 31 km/h eine Geldbuße i.H.v. 320 EUR sowie ein mit einer Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVO versehenes einmonatiges Fahrverbot.
Den hiergegen eingelegten Einspruch der Betroffenen verwarf das AG gem. § 74 Abs. 2 OWiG.
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen hebt das OLG das Urt. des AG mit den Feststellungen auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG zurück.
2 Aus den Gründen:
“ … . II. Der zulässigen Rechtsbeschwerde der Betroffenen ist mit der formgerecht erhobenen Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO, § 72 Abs. 3 S. 1 OWiG) der Verletzung der Fürsorgepflicht ein – zumindest vorläufiger – Erfolg nicht zu versagen.
Die Fürsorgepflicht als Unterfall und Konkretisierung des Fairnessprinzips ist ein selbstständiges Institut des Strafverfahrens und des Ordnungswidrigkeitenrechts. Ihre Aufgabe besteht darin, den Verfahrensbeteiligten die Wahrnehmung ihrer prozessualen Befugnisse zu ermöglichen. Die Fürsorgepflicht kann es über die positiv rechtlich geregelten Fälle hinaus erfordern, namentlich beim unverteidigten Betroffenen durch Belehrungen, Hinweise, Rückfragen und Warnungen die sachgerechte Ausübung prozessualer Befugnisse anzuregen. Auch ergibt sich aus ihr die Pflicht, auf eine sachgerechte Antragstellung hinzuwirken. Des Weiteren dient sie dem Schutz vor Überraschungsentscheidungen (LR/Kühne StPO 26. Aufl. Einl. 1 Rn 121/124).
Hiernach war das AG – vorliegend – verpflichtet, den Verteidiger der Betroffenen auf die fehlende “Erklärungsvollmacht’ hinzuweisen, da der Verteidiger mehrmals unter Hinweis auf die dem Gericht vorliegende “Erklärungsvollmacht’ die Entbindung der Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung beantragt hat und diese jeweils – ohne Begründung – zurückgewiesen worden ist.
Mit Schriftsatz v. 12.1.2011, eingegangen bei dem AG am selben Tag, hat der Verteidiger der Betroffenen unter Hinweis auf die dem Gericht vorliegende Erklärungsvollmacht beantragt, die Betroffene von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden. Ohne über diesen Antrag zu entscheiden hat das AG mit formularmäßiger Begründung den Einspruch der Betroffenen verworfen. Auf die Rechtsbeschwerde, in der die fehlende Entscheidung über den gestellten Entbindungsantrag gerügt worden ist, hat das AG von Amts wegen ohne Begründung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Unter Hinweis auf den Schriftsatz v. 12.1.2011 hat der Verteidiger der Betroffenen mit Schriftsatz v. 1.3.2011, eingegangen bei dem AG am selben Tag, erneut die Entbindung der Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung beantragt. Das AG hat den Antrag – ohne Begründung – zurückgewiesen. Nochmals unter Hinweis auf die dem Gericht vorliegende Erklärungsvollmacht hat der Verteidiger der Betroffenen wiederum die Entbindung der Betroffenen von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung mit Schriftsatz vom 3.3.2011, eingegangen bei dem AG am gleichen Tag, beantragt. Auch diesen Antrag hat das Gericht ohne Begründung zurückgewiesen. Erstmals in der Verwerfungsentscheidung vom 14.3.2011 hat der Tatrichter ausgeführt, dass ein wirksamer Entbindungsantrag nicht gestellt worden sei, da eine besondere Verteidigungsvollmacht dem Gericht nicht vorgelegen habe. … .“
Mitgeteilt von RA JR Hans-Jürgen Gebhardt, Homburg