BGB § 823
Leitsatz
Da die winterliche Räum- und Streupflicht auf der Verantwortlichkeit durch Verkehrseröffnung beruht, setzt sie eine konkrete Gefährdung des eröffneten Verkehrs durch Auftreten allgemeiner Glätte, nicht nur das Vorhandensein einzelner Glättestellen voraus.
(Leitsatz der Schriftleitung)
BGH, Urt. v. 12.6.2012 – VI ZR 138/11
Sachverhalt
Die Kl. verlangt von der Bekl. Zahlung von Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz aufgrund eines Glatteisunfalls.
Sie suchte am Sonntag, dem 23.12.2007, gegen 10.00 Uhr im Auftrag ihrer Arbeitgeberin, eines Pflegedienstunternehmens, das Grundstück der Bekl., einer Kundin, auf, um ihr eine Weihnachtsgrußkarte zukommen zu lassen. Von der Straße aus führt ein etwa zwei Meter breiter Weg auf dem Grundstück zum Hauseingang, den die Kl. benutzte, um die Karte in den Briefkasten einzuwerfen. Als sie in Richtung ihres Fahrzeugs zurückging, kam sie auf dem Weg zu Fall.
Die Kl. hat behauptet, sie sei auf dem zum Grundstück der Bekl. gehörenden, unstreitig nicht gestreuten Weg auf einer Eisfläche, die ein Ausmaß von etwa 20 × 30 cm gehabt und sich mittig auf dem Weg nahe der Grundstücksgrenze befunden habe, ausgerutscht und deshalb gestürzt. Weder auf dem Hinweg zum Hauseingang der Bekl. noch auf dem Rückweg habe sie diese Eisfläche bemerken können.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat die Berufung der Kl. zurückgewiesen. Mit der vom BG zugelassenen Revision verfolgt die Kl. ihren Klageanspruch weiter.
2 Aus den Gründen:
[5] “I. Das BG hat Ansprüche der Kl. verneint, weil es nicht habe feststellen können, dass die Bekl. die ihr obliegende Räum- bzw. Streupflicht verletzt habe.
[6] Diese Pflicht setze eine allgemeine Glättebildung und nicht nur das Vorhandensein vereinzelter Glättestellen voraus. An dem Vorliegen einer solchen allgemeinen Glätte bestünden bereits nach dem eigenen Vorbringen der Kl. Zweifel. Diese habe bei ihrer persönlichen Anhörung angegeben, sie habe vor dem Sturz kein Eis wahrgenommen, auch nicht auf der Straße. Auch auf dem Weg der Bekl. habe sie keine weiteren vereisten Stellen bemerkt.
[7] Jedenfalls lasse sich nicht feststellen, dass es bereits vor 9.15 Uhr zu einer allgemeinen Glätte gekommen sei. Nach dem Gutachten des Deutschen Wetterdienstes sei es in der Zeit zwischen etwa 8.30 Uhr und 9.15 Uhr zu leichtem, kurzzeitig auch mäßigem Regen gekommen, der auf dem unterkühlten Boden gefroren sei. Da nicht sicher feststellbar sei, zu welcher Uhrzeit konkret im Bereich des Grundstücks der Bekl. Niederschlag eingesetzt habe, könne von Regenfall mit der Folge einer allgemeinen Glättebildung erst um 9.15 Uhr ausgegangen werden. Zur Erfüllung der Räum- und Streupflicht sei dem Pflichtigen im Regelfall ein Zeitraum von nicht unter einer Stunde nach Einsetzen der allgemeinen Glätte zuzubilligen, wenn nicht aufgrund besonderer Umstände Anlass zu einer früheren Durchführung von Räum- bzw. Streumaßnahmen bestehe. Bei der am Unfalltag herrschenden Wetterlage hätten keine hinreichend erkennbaren Anhaltspunkte für eine ernsthaft drohende Gefahr bestanden, die ausnahmsweise vorbeugende Maßnahmen geboten hätten. Es sei auch nicht festzustellen, dass die Bekl. am Unfalltag, einem Sonntag, damit habe rechnen müssen, dass Personen schon um 10.00 Uhr ihr Grundstück beträten.
[8] II. Die vorstehenden Ausführungen halten im Ergebnis einer rechtlichen Prüfung stand. Die Auffassung des BG, dass eine Verletzung der der Bekl. obliegenden Räum- bzw. Streupflicht nicht festgestellt werden könne, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
[9] 1. Nach allgemeinen Grundsätzen der Beweislastverteilung muss der Verletzte alle Umstände beweisen, aus denen eine Streupflicht erwächst und sich eine schuldhafte Verletzung dieser Pflicht ergibt. Er muss deshalb den Sachverhalt dartun und ggf. beweisen, aus dem sich ergibt, dass zur Zeit des Unfalls aufgrund der Wetter-, Straßen- oder Wegelage bereits oder noch eine Streupflicht bestand und diese schuldhaft verletzt worden ist (vgl. Senatsurt. v. 29.9.1970 – VI ZR 51/69, VersR 1970, 1130, 1131; v. 27.11.1984 – VI ZR 49/83, VersR 1985, 243, 245; Senatsbeschl. V. 7.6.2005 – VI ZR 219/04, NZV 2005, 578).
[10] Die winterliche Räum- und Streupflicht beruht auf der Verantwortlichkeit durch Verkehrseröffnung und setzt eine konkrete Gefahrenlage, d.h. eine Gefährdung durch Glättebildung bzw. Schneebelag voraus. Grundvoraussetzung für die Räum- und Streupflicht auf Straßen oder Wegen ist das Vorliegen einer allgemeinen Glätte und nicht nur das Vorhandensein einzelner Glättestellen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.1.1982 – III ZR 80/81, VersR 1982, 299, 300; v. 26.2.2009 – III ZR 225/08, NJW 2009, 3302 Rn 4 m.w.N.; OLG Jena NZV 2009, 599, 600 m.w.N.; Carl, VersR 2012, 414, 415; Geigel/Wellner, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 14 Rn 147; Staudinger/Hager, BGB [2009], § 823 Rn E 128). Ist eine Streupflicht gegeben, richten sich Inhalt und Umfang nach den Umständen des Einzelfalls (Senatsurt. v. 29.9.1970 – VI ZR 51/69, a.a.O.; v. 2.10.1984 – VI ZR 125/83, NJW 1985, 270; BGH, Urt. v. 5....