BGB § 249; ZPO § 286
Leitsatz
1. Der für eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung schadensersatzpflichtige Schädiger hat grds. auch für die Folgewirkungen einzustehen, die auf einer psychischen Prädisposition oder einer neurotischen Fehlverarbeitung des Geschädigten beruhen.
2. Die Zurechnung von Folgeschäden zu Lasten des Schädigers scheitert nicht an einer für den Eintritt der Unfallfolgen mitursächlichen konstitutiven Schwäche des Verletzten.
3. Die Zurechnung psychischer Folgeschäden ist dann ausgeschlossen, wenn das schädigende Ereignis ganz geringfügig ist, nicht gerade speziell die Schadensanlage des Verletzten trifft und deshalb die in einem groben Missverhältnis zu dem Anlass stehende psychische Reaktion nicht mehr verständlich ist. Nicht geringfügig sind das Halswirbelschleudertrauma und Prellungen anderer Körperteile.
4. Weiterer Ausschlussgrund für eine Zurechnung psychischer Schadensfolgen sind dann anzunehmen, wenn der Geschädigte den Unfall in einem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit lediglich zum Anlass nimmt, den Schwierigkeiten des Erwerbslebens auszuweichen (sog. Renten- und Begehrensneurose).
5. Eine solche haftungsausschließende Begehrenshaltung beseitigt den Zurechnungszusammenhang und kann nur bei einer Gesamtschau des Schweregrades des Unfallereignisses, des subjektiven Erlebens des Unfalls und seiner Folgen, der Persönlichkeit des Geschädigten und eventueller sekundärer Motive angenommen werden. In der Regel ist hierzu die Einholung eines ärztlichen Gutachtens erforderlich.
6. Eine posttraumatische Belastungsstörung nach ICD10: F 43.1 setzt eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß voraus, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
7. Die akute Belastungsreaktion nach ICD10: F 43.0 setzt lediglich eine außergewöhnliche psychische oder physische Belastung voraus.
(Leitsätze der Schriftleitung)
BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 127/11
Sachverhalt
Der Kl. erlitt am 14.12.1993 als Fahrer seines Pkw einen Verkehrsunfall, für dessen Schadensfolgen der Bekl. zu 1) als Fahrer und die Bekl. zu 2) als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners dem Grunde nach in vollem Umfang haften. Die Bekl. zu 2) zahlte auf die geltend gemachten materiellen Schäden 14.479,55 DM (7.403,28 EUR) und als Schmerzensgeld einen Betrag von 2.000 DM (1.022,58 EUR). Der Kl. begehrt weiteren Schadensersatz und macht geltend, er leide aufgrund der Unfallverletzungen fortwährend an Schmerzen und habe deshalb keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen können; ihm seien unfallbedingt unter anderem Verdienstausfall, ein Haushaltsführungsschaden, Kosten für medizinische Behandlung sowie Aufwendungen durch Scheidung seiner Ehe entstanden.
Das LG hat die auf Zahlung von 579.900,41 EUR, eines Schmerzensgeldes von 50.000 EUR sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich weiterer materieller und immaterieller Schäden gerichtete Klage nach Einholung eines orthopädisch-traumatologischen Gutachtens, eines neurochirurgischen Gutachtens sowie eines psychosomatischen Gutachtens abgewiesen. Auf die Berufung des Kl. hat das OLG das landgerichtliche Urt. teilweise abgeändert und der Klage unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung i.H.v. 15.230,29 EUR nebst Zinsen stattgegeben (4.230,29 EUR für materielle und 11.000 EUR für immaterielle Schäden). Der Kl. nimmt die Klageabweisung hinsichtlich materieller Schäden aus dem Zeitraum bis zum 31.12.1994 i.H.v. 20.825,44 EUR hin. Mit der vom BG zugelassenen Revision verfolgt er sein Klagebegehren im Übrigen weiter.
2 Aus den Gründen:
[3] “I. Das BG führt aus, der Kl. habe durch den Unfall eine Wirbelsäulenprellung mit Distorsion der Halswirbelsäule, die dem Grad I nach Erdmann entspreche, sowie Prellungen des Thorax und des Brustbeins erlitten. Eine Fraktur der Hals- und Brustwirbelsäule sei ebenso wenig eingetreten wie Bewusstlosigkeit oder eine Gehirnerschütterung. Eine durch den Unfall verursachte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sei auch nach dem für die haftungsausfüllende Kausalität geltenden reduzierten Beweismaß des § 287 ZPO nicht festzustellen. Bei dem Kl. habe sich unmittelbar nach dem Unfall allerdings eine akute Belastungsreaktion entwickelt. Es liege eine Anpassungsstörung vor, die nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen auftreten könne und durch depressive Stimmung, Angst oder Sorge und das Gefühl, mit alltäglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen, gekennzeichnet sei. Daneben sei eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung eingetreten, deren Chronifizierung auf eine psychische Somatik hindeute. Ferner habe sich infolge des Unfalls eine dissoziative Störung der Bewegungs- und Sinnesempfindung entwickelt, die sich mit Symptomen wie der auffälligen Körperhaltung des Kl., Ataxien (Störungen der Koordination von Bewegungsabläufen), Pelzigkeitsgefühlen sowie einer verstärkten Schmerzwahrnehmung ä...