Der Entscheidung ist zuzustimmen. Ob der Anwalt eine die Schwellengebühr von 1,3 übersteigende Geschäftsgebühr berechnen darf, ist nämlich keine Frage des ihm in § 14 Abs. 1 RVG bei der Bestimmung von Rahmengebühren eingeräumten Ermessens. Sie hängt vielmehr allein davon ab, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG, nämlich eine umfangreiche oder schwierige Anwaltstätigkeit, erfüllt sind. Diese Tatbestandsvoraussetzungen hat das Gericht zu prüfen, so OLG Jena RVGreport 2005, 145 (Hansens) = AGS 2005, 201 mit Anm. N. Schneider; OLG Celle zfs 2012, 105 mit Anm. Hansens; BSG NJW 2010, 1400 = AGS 2010, 233.
Anderer Auffassung waren bisher der IX. und der VI. ZS des BGH.
Der IX. ZS des BGH hatte in seinem Urt. v. 13.1.2011, zfs 2011, 465 mit Anm. Hansens = RVGreport 2011, 136 (Hansens) ohne nähere Erörterung des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit nur mit einem Satz ausgeführt:
"Die von den Rechtsanwälten des Kl. berechnete 1,5-fache Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG ist gem. § 14 Abs. 1 S. 4 RVG auch im Verhältnis zur Bekl. verbindlich, weil sie nicht unbillig ist."
Die vom VIII. ZS des BGH hier wiedergegebene Äußerung des IX. ZS, er sei ebenfalls der Auffassung des VIII. ZS des BGH und aus seinem Urt. v. 13.1.2011 ergebe sich nichts anderes, kann ich nicht nachvollziehen.
Der VI. ZS des BGH hatte in seinem Urt. v. 8.5.2012, zfs 2012, 402 mit Anm. Hansens = RVGreport 2012, 258 (Hansens) unter ausdrücklicher Ablehnung der gegenteiligen Entscheidungen der OLG Jena und Celle, a.a.O. ausgeführt:
"Nach der gesetzlichen Regelung des § 14 Abs. 1 S. 4 RVG steht dem Rechtsanwalt bei der Bestimmung der Gebühr ein Ermessenspielraum zu. Dieser wird nicht – wie das BG meint – dadurch nach oben begrenzt, dass die Anm. zu Nr. 2300 VV RVG bei nicht umfangreichen oder schwierigen Sachen eine Regelgebühr von 1,3 vorsieht. Der Ermessensspielraum betrifft nämlich auch die unter Umständen schwierige Beurteilung der Frage, was im Einzelfall "durchschnittlich" ist. Sind Anhaltspunkte für einen Ermessensfehlgebrauch nicht gegeben, ist die Bestimmung hinzunehmen."
Der VI. ZS des BGH hat nunmehr dem VIII. ZS des BGH mitgeteilt, er habe gegen die in Aussicht genommene und jetzt ergangene Entscheidung des VIII. ZS des BGH keine Bedenken. Damit hat der VI. ZS nur rund 2 Monate nach Erlass seines Urt. v. 8.5.2012 keine Bedenken, dieser von ihm zunächst abgelehnten Gegenauffassung zu folgen. Diese Kehrtwende des VI. ZS des BGH ist umso erstaunlicher, als keine neuen Argumente zu berücksichtigen waren. Die verfahrensgegenständlichen Fragen waren in Literatur, so etwa Hansens, AnwBl. 2011, 567, 568; Schons, AGS 2011, 132 f. und 538 f. und in den Entscheidungen der OLG Jena a.a.O. und Celle a.a.O. ausführlich erörtert worden. Allerdings hat der VI. ZS des BGH auch nicht geäußert, er gebe seine bisherige Auffassung auf. Deshalb würde ich mich in Verkehrsunfallsachen, die letztinstanzlich in den Zuständigkeitsbereich des VI. ZS des BGH fallen, nach wie vor auf das Urt. des VI. ZS des BGH v. 8.5.2012, RVGreport 2012, 258 (Hansens) beziehen. Danach ist die von dem Anwalt auch über den Satz von 1,3 bestimmte Geschäftsgebühr hinzunehmen, wenn Anhaltspunkte für einen Ermessensfehlgebrauch nicht gegeben sind. In mietrechtlichen Streitigkeiten, die letztinstanzlich in die Zuständigkeit des VIII. ZS des BGH fallen, kommt hingegen angesichts des Urt. dieses Senats v. 11.7.2012 die Berechnung einer die Schwellengebühr von 1,3 übersteigenden Geschäftsgebühr nur dann in Betracht, wenn die anwaltliche Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Dies ist vom Kl. darzulegen. Vielleicht sollte man auch einfach noch einige Monate warten, ob der VIII. ZS des BGH es sich noch einmal anders überlegt. Wie es der VI. ZS des BGH vorgemacht hat, ist nämlich die "Halbwertzeit" von BGH-Entscheidungen manchmal überraschend kurz.
Der Regierungsentwurf zum 2. KostRMoG v. 29.8.2012 hat übrigens die Entscheidung des VI. ZS des BGH zum Anlass genommen, den Inhalt der Anm. zu Nr. 2300 VV RVG künftig in der gesonderten Nr. 2301 VV RVG zu regeln. Dies wird auf S. 429 des Entwurfs wie folgt begründet:
"Damit wird – insbesondere zur Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung durch die verschiedenen Fachgerichtsbarkeiten – auch klargestellt, dass die Frage des überdurchschnittlichen Umfangs und der überdurchschnittlichen Schwierigkeit als Tatbestandsvoraussetzung der vollen gerichtlichen Nachprüfung unterliegt (so auch BSG v. 1.7.2009, NJW 2010, 1400; a.A. BGH v. 8.5.2012, zfs 2012, 402)."
Heinz Hansens