GG Art. 1, 2; VVG § 213
Leitsatz
Der wirksame Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im Versicherungsvertragsrecht verlangt, dass auch Einzelermächtigungen des VR durch den VN zur Einholung von Auskünften über seine gesundheitlichen Verhältnisse auf das zur Beurteilung der Leistungspflicht erforderliche Maß begrenzt werden. Diese Begrenzung vorzunehmen ist nicht Aufgabe eines VN.
(Leitsatz der Schriftleitung)
BVerfG, Beschl. v. 17.7.2013 – 1 BvR 3167/08
Sachverhalt
Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen versicherungsvertragliche Obliegenheiten bei der Feststellung des Versicherungsfalls. Die Beschwerdeführerin schloss mit der Bekl. des Ausgangsverfahrens, einem Lebensversicherungsunternehmen, einen Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Die dem Vertrag zugrunde liegenden Tarifbedingungen enthielten Obliegenheiten zur Ermöglichung von Auskünften durch Heilbehandler.
Die Beschwerdeführerin machte gegenüber der Bekl. Ansprüche wegen eingetretener Berufsunfähigkeit aufgrund von Depressionen geltend. Die auf dem Antragsformular der Bekl. vorgedruckte Schweigepflichtentbindungserklärung, die eine Ermächtigung zur Einholung sachdienlicher Auskünfte bei einem weiten Kreis von Auskunftsstellen enthielt, strich die Beschwerdeführerin durch. Die Beschwerdeführerin erklärte sich durch ihren damaligen Rechtsanwalt zur Erteilung von Einzelermächtigungen bereit. Daraufhin übersandte die Bekl. ihr vorformulierte Erklärungen zur Schweigepflichtentbindung ihrer Krankenkasse, zweier Ärztinnen sowie der DRV zur umfassenden Information über ihre Gesundheitsverhältnisse.
Die Bekl. forderte von der Beschwerdeführerin für die Mehrkosten im Zusammenhang mit den Einzelermächtigungen eine Kostenbeteiligung i.H.v. 20 EUR je Ermächtigung. Der Leistungsantrag werde nach Eingang der Ermächtigungen und des Gesamtbetrags weiter bearbeitet. Die Beschwerdeführerin bat um Konkretisierung der gewünschten Auskünfte. Dem kam die Bekl. nicht nach; der Leistungsantrag könne erst nach Erhalt der unterschriebenen Schweigepflichtentbindungen sowie des geforderten Betrags weiter bearbeitet werden.
Die Beschwerdeführerin klagte auf Zahlung der monatlichen Rente aus der Versicherung. Sie hatte bei LG und OLG keinen Erfolg.
2 Aus den Gründen:
" … Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist i.S.d. § 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG offensichtlich begründet."
1. Die angegriffenen Entscheidungen des LG und des OLG verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht der informationellen Selbstbestimmung. …
bb) Das Grundgesetz gibt eine konkrete Ausgestaltung des Schutzes der informationellen Selbstbestimmung nicht vor. Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrechts v. 23.11.2007 (BGBl I S. 2631) in § 213 VVG den Schutz der informationellen Selbstbestimmung der VN geregelt. Diese Regelung findet gem. Art. 1 Abs. 2 EGVVG jedoch keine Anwendung, wenn ein Versicherungsfall – wie hier – vor dem 31.12.2008 eingetreten ist. In diesen Fällen obliegt es allein den Gerichten, bei der Gesetzes- und Vertragsauslegung einen wirksamen Schutz der informationellen Selbstbestimmung zu gewährleisten, indem sie prüfen, wie das Interesse der Versicherten an wirkungsvollem informationellem Selbstschutz und das in der von Art. 12 GG geschützten Vertragsfreiheit wurzelnde Offenbarungsinteresse des Versicherungsunternehmens in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden können.
Eines Ausgleichs bedarf es hierbei insb. hinsichtlich der Frage, wie die für die Beurteilung der Leistungspflicht erforderlichen Informationen eingegrenzt werden können. Das Versicherungsunternehmen muss einerseits den Eintritt des Versicherungsfalls prüfen können, dabei muss anderseits aber die Übermittlung von persönlichen Daten auf das hierfür Erforderliche begrenzt bleiben. Allerdings ist es dem VR oft nicht möglich, im Voraus alle Informationen zu beschreiben, auf die es für die Überprüfung ankommen kann. Auch wenn die für die Prüfung benötigten Auskünfte begrenzt sein können, lassen sich diese zum Teil erst dann bestimmen, wenn der VR zunächst einen Überblick über die insgesamt in Betracht kommenden Informationsquellen und damit weiterreichende Informationen erlangt hat. In einer solchen Situation wird das verfassungsrechtlich gebotene Schutzniveau unterschritten, wenn die Gerichte den Versicherungsvertrag so auslegen, dass die Versicherten eine Obliegenheit trifft, eine umfassende Schweigepflichtentbindung abzugeben, die es dem Versicherungsunternehmen ermöglicht, “sachdienliche Auskünfte’ bei einem nicht konkret bestimmten Personenkreis von Ärzten, Krankenhäusern, Krankenkassen, Versicherungsgesellschaften, Sozialversicherungsträgern, Behörden und Arbeitgebern einzuholen (vgl. BVerfGK 9, 353, 362 ff.). Bestehen wie im vorliegenden Fall keine ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen über den informationellen Selbstschutz, kann es zur Gewährleistung eines schonenden Ausgleichs der verschieden...