Gerade im Bereich von Ordnungswidrigkeitenverfahren nach Verkehrsunfällen, etwa wegen eines Vorfahrtsverstoßes, erleidet der Betroffene nicht selten selbst einen beträchtlichen Schaden. Das Fahrzeug erleidet einen (Total-)Schaden und/oder der Betroffene wird selbst nicht unerheblich verletzt. Wirtschaftlich ist es gerade dann heikel, wenn für den Betroffenen keine Vollkaskoversicherung existiert. Hier bieten sich für den Verteidiger gute Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Verteidigung des Betroffenen, indem auf eine Einstellung nach § 47 OWiG hingewirkt wird.
Im Strafgesetzbuch ist der geschilderte hohe Eigenschaden explizit in § 60 geregelt. Danach sieht das Gericht von Strafe ab, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre. Demgegenüber existiert ein solcher Fall im Ordnungswidrigkeitengesetz nicht. § 46 OWiG verweist lediglich auf die Vorschriften des Strafverfahrensrechts, also der StPO, nicht jedoch auf das StGB. Auch eine analoge Anwendung scheidet aus, da eine planwidrige Lücke nicht vorliegt. Der Gesetzgeber kannte die Problematik, hat jedoch den Fall bewusst nur für das Strafrecht geregelt.
Es ist jedoch zumindest der Rechtsgedanke des § 60 StGB auch auf Ordnungswidrigkeiten anzuwenden. Dies ist nur konsequent. Es ist zu berücksichtigen, dass eine Ordnungswidrigkeit einen Rechtsverstoß ohne kriminellen Charakter darstellt. Ordnungswidrigkeiten gehören nicht zum Kernbereich "Kriminalstrafrecht", sondern sind nur "strafrechtsähnlich". Die Einführung des Ordnungswidrigkeitenrechts ist damit zu begründen, dass sich Verstöße gegen Ordnungsrecht wesentlich von der Begehung von Straftaten unterscheiden. Ordnungswidrigkeiten sind daher bewusst vom Gesetzgeber aus dem strafrechtlichen Bereich ausgeklammert worden.
Sieht aber nun das Strafrecht explizit die Möglichkeit vor, dass das Gericht bei eigenem Schaden des Angeklagten von Strafe absehen kann, so muss dieser Rechtsgedanke folgerichtig erst recht im Ordnungswidrigkeitenverfahren Anwendung finden, welches ein "Minus" zum Strafrecht darstellt. Vom Sinn und Zweck her will das Ordnungswidrigkeitenverfahren erreichen, dass der Betroffene aus seinem Fehler lernt. Das Ordnungswidrigkeitenrecht und die daraus folgende Sanktion sind darauf ausgerichtet, einen nachdrücklichen Pflichtenappell an den Betroffenen zu richten, künftig Ge- und Verbote zu befolgen. Dieser "Lerneffekt" ist jedoch schon (wenn nicht gar noch besser) erreicht, wenn der Betroffene infolge seiner Ordnungswidrigkeit selber einen Schaden erlitten hat. Einer gesonderten "Bestrafung" durch Verhängung einer Geldbuße bedarf es daher nach richtiger Auffassung nicht.
I. Verletzungen des Betroffenen
Wie also kann der Verteidiger aus der Anwendung des Rechtsgedankens des § 60 StGB "Honig saugen"? Es reicht jedenfalls nicht aus, in einer Einlassung gegenüber der Verfolgungsbehörde pauschal den hohen Eigenschaden zu behaupten. Dies wird der Verfolgungsbehörde, insbesondere der Bußgeldstelle, nicht genügen, ist dort doch oftmals der § 60 StGB gänzlich unbekannt. Ist der Betroffene wegen des Verkehrsunfalls verletzt worden, empfiehlt es sich, sich ein ärztliches Attest vorlegen zu lassen. Dieses sollte dann unbedingt mit der Einlassung an die Bußgeldstelle weitergeleitet werden. Es sollte jedoch vermieden werden, lediglich auf das Attest zu verweisen. Bereits in dem ersten Beratungsgespräch sollte der Betroffene zu seinen Verletzungen befragt werden, insbesondere auch zu den Verletzungsfolgen. Diese sind der Bußgeldstelle mitzuteilen. Sind die Verletzungen sichtbar, kann der Betroffene in dem Beratungsgespräch darum gebeten werden, Fotos von den Verletzungen zu machen und diese zur Akte zu reichen. Der Verteidiger sollte die Fotos gleichfalls mit der Einlassung und der Bitte um vertrauliche Behandlung an die Bußgeldstelle weiterleiten. Nun hat der Sachbearbeiter plötzlich ein Bild vor Augen und muss sich ganz konkret mit der Einlassung des Verteidi...