SGB VII § 106 Abs. 3 § 108
Leitsatz
1. § 108 SGB VII räumt den Stellen, die für die Beurteilung sozialrechtlicher Fragen originär zuständig sind, hinsichtlich der Beurteilung bestimmter unfallversicherungsrechtlicher Vorfragen den Vorrang vor den Zivilgerichten ein. Diesen Vorrang haben die Zivilgerichte von Amts wegen zu berücksichtigen; er setzt der eigenen Sachprüfung – auch des Revisionsgerichts – Grenzen.
2. Dies gilt auch dann, wenn die Voraussetzungen einer sozialversicherungsrechtlichen Haftungsprivilegierung in der Person des in Anspruch genommenen Schädigers aus der uneingeschränkten Prüfungskompetenz der Zivilgerichte unterliegenden Gründen zwar nicht erfüllt sind, sich aber die Frage stellt, ob seine Haftung in Hinblick auf die Privilegierung eines weiteren Schädigers nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses beschränkt ist.
BGH, Urt. v. 30.5.2017 – VI ZR 501/16
Sachverhalt
Die Kl. nimmt die Bekl. aus nach § 6 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) übergegangenen Recht ihres Arbeitnehmers auf Ersatz des diesem infolge eines Unfalls entstandenen Erwerbsschadens in Anspruch. Die ein Transportunternehmen betreibende Kl. wurde von der ein Bedachungsunternehmen betreibenden Bekl. beauftragt, Kies für die Befüllung zweier nebeneinander liegender Garagendächer auf einer Baustelle anzuliefern. Der bei der Kl. angestellte Kraftfahrer K fuhr mit einem Betonmischer mit Förderband zu der Baustelle. Die Garagen standen in ca. 1 bis 1,5 Meter Abstand zueinander. Zwischen den Garagendächern hatten Mitarbeiter der Bekl. eine Bockleiter aufgestellt. Zwei Mitarbeiter der Bekl. waren bereits auf das erste Dach gestiegen. Um den Kies auf die Garagendächer aufzubringen, musste auch der Arbeitnehmer der Kl. auf das erste Dach steigen. Seine Aufgabe war es, den Kies mittels Fernbedienung auf die Dächer zu befördern. Die Mitarbeiter der Bekl. sollten im Anschluss den Kies auf den Dächern verteilen. Nachdem das erste Garagendach befüllt war, stieg ein Mitarbeiter der Bekl. die Leiter hinunter, stellte diese an der nächsten Garage an und stieg auf das andere Dach. Sodann stieß er die Leiter zu den auf dem ersten Garagendach verbliebenen Arbeitern. W kam bei dem Versuch von dem ersten Garagendach herunterzusteigen zu Fall und brach sich den linken Arm. Die Kl. zahlte ihm während der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit das Arbeitsentgelt fort.
Die Kl. hat ein Verschulden der Mitarbeiter der Bekl. darin gesehen, dass die von dem Mitarbeiter der Kl. benutzte Leiter zusammengeklappt gewesen sei.
Das AG hat die Klage auf Erstattung des fortgezahlten Entgeltes abgewiesen. Die Berufung der Kl. war erfolglos. Die zugelassene Revision führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.
Der Senat ging davon aus, dass die fehlende Wiedergabe der Berufungsanträge in dem angefochtenen Urteil einer Sachentscheidung nicht entgegenstehe, weil das Begehren der Kl. erkennbar sei.
2 Aus den Gründen:
[9] "… 2. Das angefochtene Urteil unterliegt aber deshalb der Aufhebung, weil das BG die Bestimmung des § 108 SGB VII nicht beachtet hat. Es hat die Tatbestandsvoraussetzungen der in § 106 Abs. 3 Alt. 3 i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII geregelten Haftungsprivilegierung für gegeben erachtet, ohne den den Unfallversicherungsträgern bzw. Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zukommenden Vorrang hinsichtlich der Beurteilung sozialversicherungsrechtlicher Vorfragen zu beachten."
[10] a) Gem. § 108 Abs. 1 SGB VII sind Gerichte außerhalb der Sozialgerichtsbarkeit bei Entscheidungen über die in den §§ 104 bis 107 SGB VII genannten Ansprüche unter anderem hinsichtlich der Frage, ob ein Versicherungsfall vorliegt, an unanfechtbare Entscheidungen der Unfallversicherungsträger und der Sozialgerichte gebunden. Nach § 108 Abs. 2 SGB VII hat das Gericht sein Verfahren auszusetzen, bis eine Entscheidung nach Abs. 1 ergangen ist. Falls ein solches Verfahren noch nicht eingeleitet ist, bestimmt es dafür eine Frist, nach deren Ablauf die Aufnahme des ausgesetzten Verfahrens zulässig ist.
[11] Die Vorschrift verfolgt das Ziel, divergierende Beurteilungen zu vermeiden und eine einheitliche Bewertung der unfallversicherungsrechtlichen Kriterien zu gewährleisten. Für den Geschädigten untragbare Ergebnisse, die sich ergeben könnten, wenn zwischen den Zivilgerichten und den Unfallversicherungsträgern bzw. Sozialgerichten unterschiedliche Auffassungen über das Vorliegen eines Versicherungsfalls bestehen und dem Geschädigten deshalb weder Schadensersatz noch eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuerkannt wird, sollen verhindert werden (vgl. Senat v. 20.11.2007 – VI ZR 244/06, VersR 2008, 255 Rn 9; v. 20.9.2005 – VI ZB 78/04, BGHZ 164, 117 = VersR 2005, 1751 Rn 10). Aus diesem Grund räumt § 108 SGB VII den Stellen, die für die Beurteilung sozialrechtlicher Fragen originär zuständig sind, hinsichtlich der Beurteilung bestimmter unfallversicherungsrechtlicher Vorfragen den Vorrang vor den Zivilgerichten ein (vgl. Senat v. 22.4.2008 – VI ZR 202/07, VersR 2008, 820 Rn 12; v. 20.4.2004 – VI ZR 189/03, B...