Die frühere Rechtsprechung des VI. Senats maß dem Gutachten die Bedeutung bei, Grundlage einer Schadensschätzung gem. § 287 ZPO sein zu können. Dies hat der Senat im Urteil vom 20.6.1989[14] explizit begründet. Auch wenn der Kläger das beschädigte Fahrzeug tatsächlich hat reparieren lassen, brauche er Art und Umfang der Reparatur nicht nachzuweisen. Er könne sich mit der Vorlage des Schätzungsgutachtens eines Kfz-Sachverständigen begnügen. Das Gutachten sei, solange es keine Anhaltspunkte für gravierende Mängel aufweise, für den Tatrichter "ungeachtet des Bestreitens der Beklagten" ausreichende Grundlage dafür, den Schaden nach § 287 ZPO zu schätzen.[15] Das durch die Vorschrift eingeräumte Ermessen habe der Tatrichter "pflichtgemäß und unter Beachtung der materiell-rechtlichen Vorgaben des § 249 S. 2 BGB" (a.F.) auszuüben.[16]

Steffen,[17] früherer Vorsitzender des VI. Senats, hat erläutert, dass § 287 ZPO neben § 252 BGB geschaffen worden ist, um den Aufwand für die Ermittlung der richtigen Schadenshöhe in vertretbaren Grenzen zu halten, ohne dass dadurch Nachteile für den Geschädigten entstehen. Der Geschädigte solle auch bei kostenbewusster Schadensermittlung möglichst den ganzen Schaden, nicht nur den beweisbaren Kern ersetzt erhalten. Der Gesetzgeber habe das Risiko, dass der Geschädigte unter Umständen auch einmal zu gut behandelt wird, in Kauf genommen.

Der Tatrichter kann danach nicht nur, sondern er muss eine Schadensschätzung aufgrund des Gutachtens erwägen und, wenn das Gutachten nicht ungeeignet ist, vornehmen. Dies kulminiert in einem "Recht des Geschädigten auf Abrechnung nach Gutachten statt nach Werkstattrechnung".[18] Dieses Recht, so Steffen, dürfe der Richter nicht durch zu strenge Anforderungen an den Nachweis der Erforderlichkeit unterlaufen. § 287 ZPO dient damit nicht nur der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens, sondern auch zur Verwirklichung des materiellen Rechts, nämlich konkret des Rechts des Geschädigten auf Schadensersatz.

Die Verknüpfung mit Vorgaben des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB (§ 249 S. 2 BGB a.F.)[19] meint die Grundsätze der Totalentschädigung, der freien Disposition und der Wirtschaftlichkeit, die der Senat aus der Norm abgeleitet hat. Die Totalentschädigung ist dabei "das allererste Anliegen der Vorschrift".[20] Danach hat der Schädiger den Geschädigten so weit wie möglich so zu stellen, als ob der Unfall nicht geschehen wäre,[21] mit anderen Worten: Er hat den "hypothetischen schadensfreien Zustand ohne Abstriche"[22] herzustellen. Die Vorschrift verpflichtet den Schädiger zur Herstellung dieses Zustands. Bei Verkehrsunfällen hingegen nimmt der Geschädigte in aller Regel durch Ausübung der Ersetzungsbefugnis die Wiederherstellung in die eigene Hand. Gleichwohl bleibt das Prinzip der Totalentschädigung im letztgenannten Fall eine Kontrollgröße: Der Geschädigte soll nach § 249 Abs. 2 BGB nicht reicher, aber auch nicht ärmer gestellt sein als bei der Naturalrestitution durch den Schädiger[23] nach Absatz 1.

Die Anwendung des § 287 ZPO verschafft dem Geschädigten die Möglichkeit, durch die Vorlage eines Schätzungsgutachtens die Schadenshöhe nicht nur darzulegen, sondern auch nachzuweisen. Das Gutachten als Grundlage der richterlichen Schätzung erbringt, wenn der Tatrichter das Ermessen gem. § 287 ZPO ausübt und die Schätzung der Schadenshöhe entsprechend vornimmt, deren Nachweis. Dieser Nachweis steht einem geführten Vollbeweis gleich. Schlichtes Bestreiten der Feststellungen des Gutachtens verhindert nicht, dass die Schadenshöhe als bewiesen angesehen wird. Wenn die Schädigerseite eine Verurteilung nach der Kostenschätzung des Sachverständigen vermeiden will, muss die Eignung des Gutachtens als Schätzgrundlage — partiell oder in toto — erschüttert werden.

Ganz anders das VW-Urteil und die folgenden Senatsentscheidungen. Das VW-Urteil,[24] die Grundsatzentscheidung, lässt unter Umständen zu, dass der Schädiger den Geschädigten auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen freien Fachwerkstatt verweisen kann. Das hat zur Folge, dass die fiktiven Reparaturkosten nicht nach den vom Sachverständigen ermittelten Kostensätzen zugesprochen werden, sondern nach den niedrigeren Preisen einer beliebigen Werkstatt. Der Schädiger muss dazu insbesondere vortragen und nachweisen, dass die Reparatur in der freien Werkstatt technisch gleichwertig wäre. Ist dieser Nachweis gelungen, kann sich der Geschädigte im Gegenzug unter Umständen auf die Unzumutbarkeit des Verweises berufen. Dazu muss er im Rahmen einer sekundären Darlegungslast darlegen und beweisen, dass das beschädigte Kraftfahrzeug nicht älter als 3 Jahre war oder stets bei einer regelmäßigen Wartung in einer bestimmten Werkstatt "scheckheftgepflegt" wurde. Für diesen Nachweis fordert der Senat Vorlage des Scheckhefts, der Rechnungen oder Mitteilung der Reparatur- und Wartungstermine.[25] Nach einem Urteil vom 7.2.2017 reicht es dagegen nicht, wenn der Geschädigte zwar die Reparaturen...

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