Nach der Überliegefrist werden Zuwiderhandlungen nach ihrer Tilgung ein Jahr lang nicht gelöscht, damit sie zur retrospektiven Feststellung eines Punktestandes noch herangezogen werden können. Die Überliegefrist hat den Zweck, nach Ablauf der Tilgungsfrist noch feststellen zu können, ob der Inhaber einer Fahrerlaubnis vorher noch eine oder mehrere andere Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen hat, die sich auf den Punktestand ausgewirkt haben, zu denen die rechtskräftige Entscheidung aber erst nach Ablauf der Tilgungsfrist im Fahreignungsregister eingetragen wird.
Hierzu gibt es zwei Auffassungen:
1) Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (11 CS 17.1144 und 11 CS 17.953) und OVG Lüneburg (NJW 2017, 1769)
Die Regelungen der Berechnung des für eine behördliche Maßnahme maßgeblichen Punktestandes (§ 4 Abs. 5 S. 5 bis S. 7 StVG) sind im Rahmen der Rechtsfolgenregelung einer Löschung von Eintragungen im Fahreignungsregister (§ 29 Abs. 7 S. 1 StVG) nicht anzuwenden. Nach § 4 Abs. 5 S. 7 StVG bleiben nur spätere Veränderungen des Punktestandes aufgrund von Tilgungen bei der Berechnung des Punktestandes zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit (vgl. § 4 Abs. 5 S. 5 und S. 6 StVG) unberücksichtigt. Es stellt keinen durch Gesetzesauslegung auszuräumenden Wertungswiderspruch, sondern eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Begrenzung des für die Berechnung des Punktestandes maßgeblichen Tattagsprinzips dar, wenn diese Bestimmung für ihren Regelungsbereich tatbestandlich an die Tilgung bzw. Tilgungsreife anknüpft und § 29 Abs. 7 S. 1 StVG an die erst nach Ablauf der Tilgung und der Überliegefrist erfolgende Löschung.
Der Senat teilt die Auffassung des niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, dass es sich bei § 4 Abs. 5 S. 7 StVG nicht um eine das Verwertungsverbot durchbrechenden Spezialvorschrift handelt und die Bestimmung auch nicht analog anzuwenden ist. Weder den Gesetzgebungsmaterialien noch dem Regelungszusammenhang oder den dem Gesetz zugrunde liegenden Wertungen lassen sich Anhaltspunkte für eine beabsichtigte Durchbrechung des Verwertungsverbotes entnehmen. Vielmehr ergebe sich aus der Gesetzesbegründung, dass der Gesetzgeber das Abwarten einer einjährigen Überliegefrist als ausreichende "Optimierungsmöglichkeit" erachtet hat, um das Risiko rein taktisch motivierter Rechtsmittel zu begrenzen und die retrospektive Feststellung des maßgeblichen Punktestandes im Fahreignungsregister hinreichend zu sichern. Der Gesetzgeber war sich dessen bewusst, dass "bei der vorgesehenen Lösung" "dieses Risiko geringer" (BT-Drucks 17/12636, S. 20), also gerade nicht ausgeschlossen ist.
In der Gesetzesbegründung wird weiter ausgeführt: "Solche Erhöhungen des Punktestandes könnten nicht mehr berücksichtigt werden, wenn eine Eintragung unmittelbar mit Eintritt der Tilgungsreife gelöscht werden würde."
Aus dieser Formulierung ist ersichtlich, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass nach der Löschung einer Eintragung eine Berücksichtigung nicht mehr möglich ist, sondern ein absolutes Verwertungsverbot besteht, und dass das für die Berechnung des Punktestandes maßgebliche Tattagsprinzip in § 4 Abs. 5 S. 5 und S. 7 StVG hierdurch eine Begrenzung erfahren sollte.
2) OVG Bautzen (NJW 2018, 1337) und VG München (NZV 2018, 95)
Sind Eintragungen im Fahreignungsregister zu dem in § 4 Abs. 5 S. 5 StVG bezeichneten Zeitpunkt noch nicht gelöscht, weil ihre Tilgungsfrist oder die Überliegefrist nach § 29 Abs. 6 StVG noch nicht abgelaufen ist, sind sie von der Fahrerlaubnisbehörde bei der Berechnung des nach § 4 Abs. 5 S. 4 StVG maßgeblichen Punktestandes zu berücksichtigen. Dies gilt auch dann, wenn nach diesem Zeitpunkt Eintragungen im Zeitraum bis zur Entscheidung der Widerspruchsbehörde noch gelöscht werden. Das in § 29 Abs. 7 S. 1 StVG angeordnete Verwertungsverbot wird durch § 4 Abs. 5 S. 5 StVG kraft Spezialität verdrängt. § 29 Abs. 7 S. 1 StVG ändert nichts an dem von § 4 Abs. 5 S. 5 StVG bestimmten Zeitpunkt.
Eine obergerichtliche Entscheidung zu der Problematik gibt es noch nicht. Aus Sicht der Praxis erscheint die Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs und des OVG Lüneburg vorzugswürdig.
Hierfür spricht folgende Überlegung:
Nach den Gesetzesmaterialien (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung für ein Viertes Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze, BT-Drucks 17/12636, S. 19 f., unter Buchst. e) hat der Gesetzgeber für Löschungen von Eintragungen eine andere Entscheidung getroffen als für die Berechnung des Punktestandes nach dem Tattagsprinzip.
Der Gesetzgeber hat in der Löschung einer Eintragung ein absolutes Hindernis für deren Verwertung gesehen, welches auch durch die in § 4 Abs. 5 S. 5 StVG vorgegebene rückschauende Ermittlung des Punktestandes nicht überwunden wird.
Denn würde allein die retrospektive Ermittlung des Punktestandes die Verwertung einer bereits gelöschten Eintragung rechtfertigen, so könnten Erhöhungen des Punktstandes auch dann berücksichtigt werden, wenn eine Eintragung bereits unmittelbar mit Eintritt ihrer Tilgungsreife gelöscht würde.
Die Berücksichtigung wäre ni...