StPO § 329 Abs. 1; OWiG § 74 Abs. 2
Leitsatz
Nach § 73 Abs. 1 OWiG ist der Betr. zum Erscheinen und zur Anwesenheit in der gesamten Hauptverhandlung verpflichtet. Dieser Pflicht genügt der Betr. nicht durch seine anfängliche Anwesenheit und anschließende eigenmächtige Entfernung aus der Hauptverhandlung. In einem solchen Fall steht das vorzeitige Entfernen des Betr. aus der Hauptverhandlung einem Nichterscheinen zur Hauptverhandlung gleich.
KG, Beschl. v. 19.3.2019 – 3 Ws (B) 85/19 – 162 Ss 138/18
Sachverhalt
Gegen den Betr. erging wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit (sog. qualifizierter Rotlichtverstoß) ein Bußgeldbescheid über 230 EUR mit einmonatigem Fahrverbot. Das AG hat einen Termin zur Hauptverhandlung anberaumt und hierzu den – vom persönlichen Erscheinen nicht entbundenen – Betr. und dessen Verteidiger ordnungsgemäß geladen. Am Terminstag sind nach Aufruf der Sache weder der Betr. noch sein Verteidiger erschienen. Als der Betr. schließlich 10 Minuten später erschien, erklärte dieser lediglich, er wolle nicht ohne seinen Verteidiger verhandeln und verließ daraufhin wieder – trotz gerichtlichen Hinweises auf seine Anwesenheitspflicht – die Hauptverhandlung. Mit dem angegriffenen Urteil hat das Gericht nach einer weiteren Wartezeit den Einspruch verworfen. Der Betr. rügt mit seiner Rechtsbeschwerde die Verletzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren: Das Gericht habe gegen seine prozessuale Fürsorgepflicht verstoßen. Es hätte in der Kanzlei des Verteidigers nachfragen müssen, worauf das Nichterscheinen des Verteidigers zurückzuführen sei. Das Gericht hätte dann erfahren, dass durch die Angestellte des Verteidigers eine falsche Terminsstunde notiert worden war. Die Verhandlung hätte daher zumindest unterbrochen werden müssen. Das KG hat die Rechtsbeschwerde des Betr. gegen das Urteil des AG verworfen.
2 Aus den Gründen:
"… II. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg."
Die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid ist nicht zu beanstanden; die vom Betr. erhobene Verfahrensrüge der Verletzung von § 74 Abs. 2 OWiG greift – entgegen der Auffassung der GenStA – nicht durch.
Die Verfahrensrüge entspricht zwar den Darlegungsanforderungen der § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist jedoch nicht begründet. Das AG hat den Einspruch des Betr. zu Recht verworfen. Denn Anknüpfungspunkt der Verwerfung des Einspruchs ohne sachliche Prüfung ist die Verletzung der Anwesenheitspflicht des Betr.
Nach § 73 Abs. 1 OWiG ist der Betr. – anders als nach § 73 Abs. 1 OWiG a.F. – zum Erscheinen und zur Anwesenheit in der gesamten Hauptverhandlung verpflichtet. Dieser Pflicht genügte der Betr. nicht – wie im vorliegenden Fall – durch seine anfängliche Anwesenheit und anschließende eigenmächtige Entfernung aus der Hauptverhandlung (Senge in KK-OWiG, 5. Aufl., § 74 Rn 30). In einem solchen Fall steht – zumal die Richterin den Betr. auf seine Anwesenheitspflicht mündlich hingewiesen hat – das vorzeitige Entfernen des Betr. aus der Hauptverhandlung einem Nichterscheinen zur Hauptverhandlung gleich (KG NStZ-RR 2015, 55 m.w.N.; Seitz/Bauer in Göhler, OWiG, 17. Aufl., § 74 Rn 30; Senge a.a.O.).
Entgegen den Ausführungen der Rechtsbeschwerde ist der Betr. auch nicht dadurch entschuldigt, weil sein Verteidiger zur Hauptverhandlung nicht erschienen ist. Eine Entschuldigung ist nämlich nur dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Betr. einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Betr. unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann. Entscheidend ist dabei nicht, ob sich der Betr. genügend entschuldigt hat, sondern ob er (objektiv) genügend entschuldigt ist (KG, Beschl. v. 2.6.2015 – 3 Ws (B) 124/15-122 Ss 37/15 – BeckRS 2015, 16923; NZV 2002, 421).
Zutreffend führt die Rechtsbeschwerde zwar aus, dass der Betr. gem. § 46 OWiG, § 137 Abs. 1 S. 1 StPO auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht hat, einen Verteidiger seines Vertrauens hinzuzuziehen. Aus diesem Recht folgt aber nicht – wie bereits die Regelung des § 46 OWiG, § 228 Abs. 2 StPO zeigt –, dass bei jeder Verhinderung des gewählten Verteidigers eine Hauptverhandlung nicht durchgeführt werden kann (BVerfG NJW 1984, 862; Seitz/Bauer in Göhler a.a.O.). Zwar kann es – auf Antrag des Betr. oder von Amts wegen – die Fürsorgepflicht und das Gebot des fairen Verfahrens unter Abwägung der Interessen des Betr. und der rechtsstaatlichen Ziele der Durchführbarkeit des Verfahrens und der Beschleunigung gebieten, die Hauptverhandlung zu unterbrechen, auszusetzen oder den Termin zu verlegen (OLG Zweibrücken NZV 1996, 162; BayObLG NZV 1989, 124; Göhler a.a.O.). Gleichwohl führt dieser Anspruch des Betr. auf pflichtgemäße Ausübung des richterlichen Ermessens (BVerfG a.a.O.) nich...