GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 544 Abs. 7
Leitsatz
1. Im Prozessrecht findet sich keine Grundlage, Parteivortrag nur deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil er im Widerspruch zu vorangegangenem, ausdrücklich aufgegebenem Vortrag steht. Im Gegenteil ist eine Partei nicht daran gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insb. zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen; eine Vortragsänderung kann nur bei der Beweiswürdigung Bedeutung erlangen (Fortführung BGH vom 5.11.2015 – I ZR 50/14 – GRUR 2016, 705 Rn 41 m.w.N.).
2. Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes wegen unterbliebener Berücksichtigung erstinstanzlich geänderten Vortrags durch das BG.
BGH, Beschl. v. 24.7.2018 – VI ZR 599/16
Sachverhalt
In einem Rechtsstreit über die Leistung von Schadensersatz gaben die Kl. in der ersten Instanz zunächst an, die die Kapitalanlage bildenden Genussscheine nach einer Beratung erworben zu haben. Später führten sie in der ersten Instanz im Widerspruch hierzu aus, die Entscheidung über den Erwerb der Genussscheine sei durch den Vermögensverwalter auf eigene Faust getroffen worden.
Das LG ließ das geänderte Vorbringen mit der Begründung unberücksichtigt, dass es im Gegensatz zu früherem Vorbringen stehe, und wies die Klage ab. Das BG bestätigte die Klageabweisung. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kl. führte zu Aufhebung und Zurückverweisung.
2 Aus den Gründen:
"… [12] bb) Im Prozessrecht findet sich keine Grundlage, Parteivortrag nur deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil er im Widerspruch zu vorangegangenem, ausdrücklich aufgegebenem Vortrag steht. Im Gegenteil ist eine Partei nicht daran gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insb. zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen; eine Vortragsänderung kann nur bei der Beweiswürdigung Bedeutung erlangen (vgl. nur BGH vom 5.11.2015 – I ZR 50/14 – GRUR 2016, 705 Rn 41, m.w.N.)."
[13] Soweit die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung die Auffassung vertritt, die Kl. hätten ihren Vortrag zur Beratung der Kl. über die Genussscheine gar nicht geändert, weil sie im Schriftsatz vor der mündlichen Verhandlung noch auf die Beratung der Kl. abgestellt hätten, vermag der erkennende Senat dem angesichts der klaren Aussage des Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung ("auf eigene Faust") nicht zu folgen.
[14] b) Weiter hat das BG die Kl. in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs auch dadurch verletzt, dass es den dargestellten Vortrag im angefochtenen Beschluss nach § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO zurückgewiesen hat. Diese Zurückweisung findet in § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO schon deshalb keine Grundlage, weil die Vortragsänderung – wie gezeigt – bereits in erster Instanz erfolgte. Ob die zweitinstanzlich erfolgte Ergänzung des geänderten Vortrags dahin gehend, dass der Kauf der Genussscheine "nach Abschluss mehrerer Vermögensverwaltungsverträge" erfolgte, vom BG nach § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO zurückgewiesen werden durfte, kann dahinstehen. Denn dieser Umstand ist auf der Grundlage des klägerischen Vortrags zur Kausalität unerheblich.
[15] c) Eine weitere Gehörsverletzung liegt schließlich der Annahme des BG zugrunde, an einer kausalen Verknüpfung zwischen dem Erwerbsvorgang und dem Prospekt fehle es auch dann, wenn die Erwerbsentscheidung durch einen Mitarbeiter der A. AG auf der Grundlage der Empfehlungen des Anlageausschusses der A. AG getroffen worden sei. Das BG lässt hier – was die Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend rügt – völlig außer Acht, dass die Kl. unter Beweisantritt behauptet haben, der Prospekt sei Grundlage der Vertriebsentscheidung der A. AG gewesen. Zudem haben die Kl. im Rahmen ihrer Berufungsbegründung vorgetragen, der Prospekt sei auch vom Anlageausschuss der A. AG geprüft und dazu benutzt worden, die Anlageempfehlung zu erstellen.
[16] d) Die Gehörsverletzungen sind entscheidungserheblich. Zu den Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 283b Abs. 1 Nr. 3 StGB, 331 Nr. 1 HGB, 283, 284a oder 264 StGB hat das BG bislang – mit Ausnahme der rechtsfehlerhaften Ausführungen zur Kausalität – keine Feststellungen getroffen. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass solche Schadensersatzansprüche im Ergebnis bestehen.“
3 Anmerkung:
1) Das Vorbringen von Parteien in Schriftsätzen wie in einer mündlichen Verhandlung stellt eine einseitige Parteiprozesshandlung dar, die entweder sofort eine neue Prozesslage schafft (Bewirkungshandlung) oder das Gericht zu einer bestimmten Entscheidung bewegen soll (Erwirkungshandlung). Beispiele für Bewirkungshandlungen, die ohne Zutun des Gerichts eine neue Prozesslage herbeiführen, sind die Klagerücknahme nach § 269 ZPO, die Rücknahmen von Einsprüchen gegen ein Versäumnisurteil (§ 346 ZPO), der Berufung (§ 516 ZPO) und der Revision (§ 565 ZPO) sowie das Anerkenntnis (§ 307 ZPO). In all diesen Fällen tritt allein durch die wirksame Vornahme einer Parteiprozesshandlung eine neue Prozesslage ein, dass etwa die Rechtshängigkeit endet, ein Prozesstoff verbindlich begrenzt wird oder bei Einlegung eines Rechtsm...