BGB § 249
Leitsatz
1. Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen. Aus dem durch lebenserhaltende Maßnahmen ermöglichten Weiterleben eines Patienten lässt sich daher ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld nicht herleiten.
2. Schutzzweck etwaiger Aufklärungs- und Behandlungspflichten im Zusammenhang mit lebenserhaltenden Maßnahmen ist es nicht, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben und den dem Leben anhaftenden krankheitsbedingten Leiden verbunden sind, zu verhindern. Insb. dienen diese Pflichten nicht dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.
BGH, Urt. v. 2.4.2019 – VI ZR 13/18
Sachverhalt
Der Kl. macht als Alleinerbe seines in den Jahren 2010 und 2011 von dem beklagten Hausarzt künstlich ernährten Vaters materielle und immaterielle Schadensersatzansprüche geltend. Zur Begründung führt er aus, dass die künstliche Ernährung zu einer sinnlosen Verlängerung des Lebens seines Vaters geführt habe. Der im Jahre 1929 geborene Patient stand wegen eines dementiellen Syndroms seit dem Jahre 1997 unter Betreuung und lebte seit dem Jahre 2006 in einem Pflegeheim. Seit 2008 war eine Kommunikation mit ihm nicht mehr möglich. Nachdem der Patient seit 2003 zur selbstständigen Fortbewegung nicht mehr in der Lage war, traten im Juni 2008 bei ihm eine spastische Tetraparese und ein Nackenrigor auf.
Seit November 2008 wurden dem Patienten Schmerzmittel auf Opioidgrundlage verschrieben. Ab 2010 litt der Patient an Fieber, Atembeschwerden und Dekubitus. Viermal traten Lungenentzündungen auf. Nach einer stationär wegen des schlechten Gesundheitszustandes des Patienten nicht durchgeführten Operation wegen einer Gallenblasenentzündung erfolgte eine weitere stationäre Behandlung im Jahre 2011.
Der Patient verstarb am 19.10.2011. Bis zu seinem Tode wurde die Sondenernährung fortgesetzt. Der Betreuer hatte der Sondenernährung zugestimmt. Zur Begründung der Klage auf Schmerzensgeld und auf Rückgewähr der ab 2010 entstandenen Behandlungs- und Pflegeaufwendungen von ca. 53.000 EUR hat der Kl. die Auffassung vertreten, spätestens ab Anfang 2010 sei die lebensverlängernde Therapierung des Patienten weder medizinisch indiziert noch durch den Patientenwillen indiziert gewesen. Statt in haftungsbegründender Weise das Leiden des Patienten ohne Aussicht auf Besserung zu verlängern, hätte der Bekl. ein neues Therapieziel wählen müssen.
Das Sterben des Patienten hätte unter palliativmedizinischer Betreuung und unter Absetzung der Sondenernährung zugelassen werden müssen.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Kl. hat der Senat ein Schmerzensgeld von 40.000 EUR zuerkannt, die weitergehende Klage abgewiesen. Die Revision des Bekl. hatte Erfolg, die des Kl. wurde abgewiesen; die Anschlussrevision des Kl. hatte keinen Erfolg.
2 Aus den Gründen:
"… [8] I. Das OLG, dessen Entscheidung in FamRZ 2018, 723, veröffentlicht ist, hat dem Kl. das Schmerzensgeld aus ererbtem Recht des Patienten zugesprochen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es, soweit im Revisionsverfahren noch erheblich, ausgeführt, der Bekl. sei im Rahmen seiner Aufklärungspflicht gehalten gewesen, mit dem Betreuer die Frage der Fortsetzung oder Beendigung der Sondenernährung eingehend zu erörtern, was er unterlassen habe. Die aus dieser Pflichtverletzung möglicherweise resultierende Lebens- und gleichzeitig Leidensverlängerung des Patienten stelle einen ersatzfähigen Schaden dar. Die für die Verneinung eines kindlichen Schadensersatzanspruchs wegen "wrongful life" maßgeblichen Erwägungen im Urteil des BGH zum sog. Röteln-Fall (Senat vom 18.1.1983 – VI ZR 114/81 – BGHZ 86, 240 = VersR 1983, 396) kämen in der vorliegenden Fallkonstellation nicht zum Tragen. Es gehe nicht darum, das Leben eines schwerkranken Patienten als "unwert" zu qualifizieren, sondern um die Frage, ob die Fortsetzung der Sondenernährung oder nicht eher das Zulassen des Sterbens seinem Wohl besser diene. Es verbleibe allerdings das grundsätzliche Problem, ob das (Weiter-)Leben, wenn auch unter schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Leiden, gegenüber dem Tod bzw. der Nichtexistenz einen Schaden im Rechtssinn darstellen könne. Dies sei im vorliegenden Fall zu bejahen. Wenn nach Beweislastregeln im Rahmen der Kausalität zu unterstellen sei, dass der Betreuer den Patienten hätte sterben lassen, weil der Tod für ihn eine Erlösung gewesen wäre, müsse dies auch schadensrechtlich so gesehen werden. Es würde zudem einen Wertungswiderspruch darstellen, wenn man einerseits die Beibehaltung einer Magensonde als fortdauernden einwilligungsbedürftigen Eingriff in die körperliche Integrität ansehe und andererseits diesem Sachverhalt eine schadensbegründende Qualität von vornherein abspräche."
[9] Bereits die Verletzung des Integritätsinteresses des Patienten, dem ohne wirksame Einwilligung über einen länger...