VVG § 172 Abs. 3 § 174; TB-BV Nr. 2
Leitsatz
Bei dem für die Verweisbarkeit des Versicherten auf eine andere berufliche Tätigkeit gebotenen Einkommensvergleich ist das vor Geltendmachung der Berufsunfähigkeit tatsächlich erzielte Einkommen grds. nicht auf den Vergleichszeitpunkt fortzuschreiben.
BGH, Urt. v. 26.6.2019 – IV ZR 19/18
Sachverhalt
Der Kl. nimmt den Bekl. auf Fortzahlung einer monatlichen Berufsunfähigkeitsrente in Anspruch. In den seinem Vertrag zugrunde liegenden AVB heißt es u.a.:
"2. Was ist Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen?"
(2.1) Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn der Versicherte infolge Krankheit (…) voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen außerstande ist, seinen zuletzt ausgeübten Beruf oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und seiner bisherigen Lebensstellung entspricht. Die Verweisung auf eine andere Tätigkeit ist ausgeschlossen, wenn das jährliche Einkommen 20 % oder mehr unter dem Einkommen im zuletzt ausgeübten Beruf liegt; sollte die herrschende Rspr. künftig nur geringere Einkommensreduzierungen für zumutbar erachten, so ziehen wir diese heran.“
Der Kl. war seit dem Jahr 1998 im Wesentlichen als Dachdeckerhelfer tätig. Unterbrochen wurde diese Tätigkeit von einer viermonatigen Arbeitslosigkeit zu Beginn des Jahres 2006 und einer Beschäftigung als Elektrohelfer von Juli bis einschließlich November 2007. Zum Dezember 2007 wurde der Kl. wiederum von seinem früheren Arbeitgeber als Dachdeckerhelfer eingestellt, wobei der Arbeitsvertrag einen Stundenlohn von 10 EUR vorsah. Im Januar 2008 wurde bei dem Kl. ein Bandscheibenvorfall diagnostiziert. Der Bekl. erkannte seine Leistungspflicht am 9.8.2008 an und erbrachte die vereinbarte Berufsunfähigkeitsrente.
Nach Eintritt der Berufsunfähigkeit begann der Kl. eine Umschulung zum Kaufmann, die er im Jahre 2011 abschloss. Mit Schreiben vom 10.7.2012 erklärte der Bekl., den Kl. auf seine zum 23.4.2012 aufgenommene, mit monatlich 1.000 EUR brutto vergütete Tätigkeit als Kaufmann im Großhandel mit regelmäßiger Wochenarbeitszeit von 28 Stunden zu verweisen. Der Bekl. begründete dies unter anderem damit, dass der Kl. in den Jahren 2004 bis 2007 ein durchschnittliches Einkommen von 12.340 EUR pro Jahr erzielt habe und die nunmehr ausgeübte Tätigkeit daher dessen bisheriger Lebensstellung entspreche. Er stellte hierauf – abgesehen von einer als Kulanzleistung bezeichneten Überweisung i.H.v. sechs weiteren monatlichen Rentenbeträgen – seine Zahlungen Ende August 2012 ein.
Der Kl. ist der Ansicht, dass eine Verweisung nicht in Betracht komme, da er im Jahr 2007 ein Bruttoeinkommen i.H.v. 15.523 EUR erzielt habe.
Nach Erhebung der zunächst auf Feststellung der Leistungsverpflichtung gerichteten Klage hat der Bekl. den Kl. mit Schriftsatz vom 3.5.2013 abstrakt auf eine vollschichtige Tätigkeit eines Kaufmanns im Großhandel und Verkauf verwiesen.
Zum 31.12.2014 endete das 2012 begründete Beschäftigungsverhältnis des Kl. 2016 nahm er eine mit monatlich 850 EUR brutto entlohnte Teilzeittätigkeit als Hausmeister auf.
2 Aus den Gründen:
"… [11] Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das BG."
[12] I. Nach dessen Auffassung ist die Leistungspflicht des Bekl. nicht dadurch weggefallen, dass er den Kl. auf das seit April 2012 bestehende Arbeitsverhältnis konkret verwiesen habe. Diese Tätigkeit habe nicht dessen bisheriger Lebensstellung entsprochen. Den dabei anzulegenden Maßstäben werde eine allein auf das rechnerische Durchschnittseinkommen der letzten drei Jahre vor Eintritt der Berufsunfähigkeit abstellende Feststellung der vormaligen Lebensstellung nicht gerecht. Bei einer solchen Berechnung wirkten sich etwaige Arbeitszeitdefizite auch dann einkommensmindernd aus, wenn diese etwa auf die jeweilige Auftragslage des konkreten Arbeitgebers zurückzuführen seien. Der Kl. sei auch nur einmal arbeitslos gewesen, was seine Lebensverhältnisse im Januar 2008 nicht signifikant geprägt habe. Einer Feststellung der Lebensverhältnisse durch Ermittlung eines auf mehrjähriger Basis erzielten Durchschnittseinkommens stehe zudem entgegen, dass der Kl. 2007 aus in der Person seines Arbeitgebers liegenden Gründen vorübergehend außerhalb der Baubranche gearbeitet habe.
[13] Vor diesem Hintergrund seien die vormaligen Lebensverhältnisse des Kl. im Mindestmaß maßgeblich durch die Bedingungen des seit 1997 jeweils durch Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages zur Regelung der Mindestlöhne im Baugewerbe geprägt gewesen. Der rechtliche Ansatz, eine Fortschreibung des in gesunden Tagen erzielten Einkommens auf Grundlage aktueller Tarifbedingungen vorzunehmen, gelte jedenfalls dann, wenn diese auf einem Tarifvertrag mit erheblicher Verbreitung oder (wie vorliegend) auf einem für allgemeinverbindlich erklärten Tarif beruhten. (…)
[14] Auch durch die im Verlaufe des Rechtsstreits von dem Bekl. erklärte weitere Verweisung auf eine fiktive Vollzeittätig...