EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1; OWiG § 79 Abs. 6; StVG § 25
Leitsatz
1. Die im Strafverfahren entwickelten Grundsätze für erhebliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen gelten auch für das Ordnungswidrigkeitenverfahren einschließlich in der Rechtsbeschwerdeinstanz eingetretener Verzögerungen.
2. Bei einer Verzögerung in der Rechtsbeschwerdeinstanz von 1 Jahr 9 Monaten kann es geboten sein, ein angeordnetes Fahrverbot von einem Monat Dauer für vollstreckt zu erklären.
OLG Hamburg, Beschl. v. 2.4.2019 – 2 RB 27/17 – 3 Ss OWi 48/17
Sachverhalt
Das AG hat gegen den Betr. mit Urt. v. 5.12.2016 eine Geldbuße von 200 EUR und ein einmonatiges Fahrverbot verhängt. Das OLG Hamburg hat die Rechtsbeschwerde des Betr. gegen das Urteil des AG mit der Maßgabe auf Kosten des Betr. verworfen, dass aufgrund im Rechtsbeschwerdeverfahren eingetretener rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung das mit der angefochtenen Entscheidung verhängte einmonatige Fahrverbot als vollstreckt gilt.
2 Aus den Gründen:
"… II. Die gem. § 79 Abs. 1 Nr. 1 und 2 OWiG statthafte sowie fristgerecht eingelegte und begründete (§§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 341, 344, 345 StPO) Rechtsbeschwerde bleibt – mit der aus der Entscheidungsformel ersichtlichen, maßgeblich auf dem Eintritt einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in der Rechtsbeschwerdeinstanz beruhenden Maßgabe – in der Sache ohne Erfolg, da die auf die Sachrüge hin veranlasste Prüfung keinen tragenden Rechtsfehler zu Lasten des Betr. ergeben hat."
III. Das durch das AG zum dortigen Entscheidungszeitpunkt rechtsfehlerfrei verhängte Fahrverbot kann aus Gründen des Zeitablaufs unter Berücksichtigung der im Rechtsbeschwerdeverfahren eingetretenen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung keinen Bestand mehr haben.
1. Die Notwendigkeit der Verhängung eines Fahrverbots kann, da die damit verbundene Warn- und Besinnungsfunktion für den Betr. im Laufe der Zeit an Effektivität verliert, durch den Zeitablauf seit der zu ahnenden Ordnungswidrigkeit unter Berücksichtigung der weiteren Umstände des Einzelfalls in Frage gestellt sein. Eine Aufhebung oder Herabsetzung der Dauer des Fahrverbots wird nach verbreiteter Auffassung nach Verstreichen eines Zeitraums von etwa zwei Jahren in Erwägung gezogen (vgl. dazu BayObLG NZV 2004, 210; OLG Köln NZV 2004, 422 f.; OLG Brandenburg NZV 2005, 278 f.; Hentschel/König/Dauer-König, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 25 StVG Rn 24), wobei neben weiteren fallbezogenen Umständen insb. auch Berücksichtigung finden kann, ob das Ordnungswidrigkeitenverfahren aus Gründen, auf die der Betr. keinen Einfluss gehabt hat, besonders lange Zeit in Anspruch genommen hat (vgl. OLG Köln a.a.O.; BayObLG NZV 2004, 100).
2. Im vorliegenden Verfahren ist in der Sachbehandlung durch das Rechtsbeschwerdegericht eine erhebliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung eingetreten. Die hierfür im Strafverfahren entwickelten Grundsätze (grundlegend: BGHSt 51, 124 ff.) gelten auch für das Ordnungswidrigkeitenverfahren einschließlich in der Rechtsbeschwerdeinstanz eingetretener Verzögerungen (BVerfG, Beschl. v. 2.7.2003 – 2 BvR 273/03 (juris); OLG Karlsruhe, Beschl. v. 29.12.2016 – 2 (7) SsBs 632/16).
Die vorliegende Sache war nach Eingang des Empfangsbekenntnisses des Verteidigers des Betr. über den Erhalt des Antrags der GenStA ab Beginn des Monats Mai 2017 entscheidungsreif. Unter Abzug einer noch angemessenen Bearbeitungszeit von etwa drei Monaten liegt eine von dem Betr. nicht zu vertretende erhebliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von annähernd einem Jahr und neun Monaten vor, zu deren Kompensation unter Berücksichtigung der weiteren Umstände, namentlich einerseits der im Vergleich zum Strafverfahren geringeren Eingriffsintensität des Ordnungswidrigkeitenverfahrens, sowie andererseits der nicht sehr hohen, zugleich aber auch nicht unerheblichen Sanktion in Form der verhängten Geldbuße und des angeordneten Fahrverbots und der vor diesem Hintergrund von dem Verfahren ausgehenden Belastung des Betr., über die – hiermit erfolgte – Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung hinaus ein Ausgleich im Wege entsprechender Anwendung der sog. Vollstreckungslösung (vgl. zur Anwendbarkeit im Ordnungswidrigkeitenverfahren: OLG Saarbrücken, Beschl. v. 6.5.2014 – Ss (B) 82/2012; OLG Hamm DAR 2011, 409 ff.) geboten ist, der hier unter ergänzender Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen zu Ziff. 1. dazu führt, dass der Senat das amtsgerichtlich verhängte Fahrverbot für vollstreckt erklärt hat.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 473 Abs. 1 StPO.“
3 Anmerkung:
Von der Frage, ob wegen Zeitablaufs das Fahrverbot wegfällt oder verkürzt werden darf, also ob oder wie die Rechtsfolge anzuordnen ist, streng zu trennen ist die Auswirkung einer besonders langen Verfahrensdauer auf die bereits konkret feststehende Rechtsfolge (BeckOK StVR/Krenberger, § 25 StVG, Rn 81). Bei überlanger rechtsstaatswidriger Verfahrensdauer kann nach der Vollstreckungslösung des BGH (BGHSt 52, 124) auch ein Teil des vollständig a...