Wie dargelegt ist für die Haftungsabwägung bei einem Unfall zwischen einem Fahrzeug i.S.d. § 7 StVG und einem Fußgänger in aller Regel weniger der schuldhafte Verkehrsverstoß des Fahrzeugführers, sondern eher die Frage entscheidend, ob der Unfall für den Fahrzeugführer vermeidbar war, er also auf eine sich anbahnende Verkehrssituation richtig reagiert und ob der Fußgänger gegen ihm obliegende Sorgfaltspflichten verstoßen hat. Dazu sind in Anlehnung an die Formulierung des § 25 Abs. 1 StVO zunächst zwei Grundfälle zu unterscheiden: Das Überqueren der Fahrbahn durch den Fußgänger und sein Entlanglaufen am Fahrbahnrand. Die Erkennbarkeit (Tageslicht oder Dunkelheit) spielt ebenso eine Rolle wie die Helligkeit der Kleidung des Fußgängers und die Frage, ob er aus Sicht des Fahrzeugführers von rechts oder links kam. Auch Sonderfälle sind zu berücksichtigen, beispielsweise Unfälle in der Nähe von Kindergärten, Schulen oder Haltestellen der öffentlichen Verkehrsmittel. Grundsätzlich gilt:
1. Überqueren der Fahrbahn
a) Vertrauen auf verkehrsgerechtes Verhalten
Tritt ein Fußgänger, der nicht zu der geschützten Personengruppe des § 3 Abs. 2a StVO gehört, unmittelbar vor dem Fahrzeug auf die Straße und gerät er direkt in die Fahrlinie des Fahrzeugs, so haftet er in der Regel allein. Der Betriebsgefahr des Pkw steht hier ein grob fahrlässiger Verstoß des Fußgängers gegen die Regel des § 25 Abs. 3 StVO gegenüber, in der Abwägung kann hier die Verantwortung des Pkw aus der Betriebsgefahr in aller Regel entfallen. Beweisbelastet für den Zeitpunkt des Betretens der Fahrbahn, der dann noch verbleibenden Reaktionszeit/-strecke und damit für den Verkehrsverstoß des Fußgängers ist nach den Grundsätzen des § 7 StVG der Halter des Fahrzeugs. Die Rechtsprechung geht in diesen Fällen aber inzwischen von einem gegen den Fußgänger streitenden Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Nichtbeachtung des § 25 Abs. 3 StVO aus, wenn ein Fahrzeug auf der rechten Fahrzeugseite ohne weitere Besonderheiten mit einem von rechts kommenden Fußgänger zusammenstößt.
Als Merksatz kann gelten: Je schlechter der Fußgänger (auch im Vorfeld) zu sehen ist, je kürzer die Zeitspanne ist, während der er sich auf der Fahrbahn befindet und je geringer damit die "Vorwarnzeit" für den Fahrzeugführer, desto höher fällt die Haftung des Fußgängers aus. Der Fahrzeugführer darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass sich der Fußgänger verkehrsgerecht verhalten und nicht leichtsinnig vor das Fahrzeug laufen wird.
Dazu hatte das LG Hagen die folgende Konstellation zur Entscheidung vorliegen :
Ein Motorrad fährt innerorts hinter einem im Abbiegen begriffenen und deshalb verlangsamenden Pkw. Ohne die Fahrspur zu verlassen, fährt das Motorrad an dem abbiegenden Fahrzeug links vorbei. In diesem kurzen Zeitabschnitt tritt die Versicherte der auf Klägerseite auftretenden gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung – vom rechten Bordstein/Gehweg kommend – auf die Fahrbahn und wird von dem Motorrad erfasst. Das Gericht legt nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine Ausgangsgeschwindigkeit des Motorrads von – erlaubten – 43 km/h und eine maximale Reaktionszeit von 1,4 Sekunden zugrunde. Wann sich die beiden Unfallbeteiligten erstmals wechselseitig wahrnehmen konnten, blieb in gewissem Rahmen unklar.
Das Landgericht kommt zur vollen Haftung auf Seiten der Fußgängerin. Zwar bog das aus ihrer Sicht vordere Fahrzeug nach rechts ab, sie durfte aber nicht darauf vertrauen, dass hinter diesem Pkw keine anderen Fahrzeuge fahren, die in ihre Richtung unterwegs sind. Anhaltspunkte dafür, dass der Motorradfahrer von einem nicht-verkehrsgerechten Verhalten der Fußgängerin ausgehen musste, konnten nicht festgestellt werden.
Tritt der Fußgänger aber weit vor dem Fahrzeug auf die Fahrbahn, ist er gut zu sehen oder sein Verhalten (dazu nachstehend) für den Fahrzeugführer gerade nicht absehbar, trifft den Fahrzeugführer eine steigende Mitverantwortung. Wie oben im Zusammenhang mit der Entscheidung des OLG Brandenburg dargelegt ist auch zu berücksichtigen, ob sich für den Fahrzeugführer Anhaltspunkte dafür bieten, dass mit unkontrolliert auf die Fahrbahn laufenden Fußgängern zu rechnen ist.
b) Kein Vertrauen auf verkehrsgerechtes Verhalten
Einen ähnlichen Fall mit Schwerpunkt in der Frage der Reichweite des Vertrauensgrundsatzes hatte jüngst der BGH zu entscheiden :
Abends gegen 23 Uhr läuft der Kläger entlang einer Fahrbahn, deren zwei Fahrspuren durch eine Mittellinie getrennt sind. Der Beklagte nähert sich mit seinem Pkw, als der Kläger mit dem Überqueren der Fahrstreifen beginnt...