StVG § 2 § 21 Abs. 1 Nr. 1; Polizei- und Ordnungsbehördengesetz RP (POG) § 22 Nr. 1; StGB § 315d Abs. 1 Nr. 3; StPO § 152 Abs. 2 § 81b Abs. 1 Nr. 2
Leitsatz
Zu den Voraussetzungen für die Sicherstellung eines Motorrades, um eine gegenwärtige Gefahr abzuwenden (hier verneint).
OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 30.4.2024 – 7 A 10988/23.OVG
1 Sachverhalt
Der Kl. begehrt die Aufhebung der Sicherstellung seines Motorrads und dessen Herausgabe.
Die Polizei hatte das Motorrad nach dem Anhalten des Fahrers bei einer Verkehrskontrolle aufgrund seines vorangegangenen Verhaltens, das von ihr als verbotenes Kfz-Rennen bewertet wurde, zur Gefahrenabwehr sichergestellt.
Im Februar 2022 wurden zwei Polizeibeamte eines Streifenwagens auf zwei Motorräder aufmerksam, die nach ihrer Einschätzung mit einer Geschwindigkeit von ca. 80 bis 100 km/h auf einer vierspurigen Straße in Ludwigshafen fuhren, auf der eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h erlaubt ist. Die Polizeibeamten folgten den beiden Motorradfahrern bis zu einer Ampel und forderten sie auf, sich in eine Seitenstraße zur Durchführung einer Verkehrskontrolle zu begeben. Während der andere Motorradfahrer flüchtete, folgte der Kl. den Anweisungen der Polizeibeamten. Diese belehrten den Kl. als Beschuldigten eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens, einer Straftat nach § 315d StGB, und stellten das Fahrzeug doppelfunktional sicher, d.h. sowohl im Rahmen der Strafverfolgung als auch zur Gefahrenabwehr. Außerdem wurde die Beschlagnahme des Führerscheins angeordnet. Das Strafverfahren gegen den Kl. wurde vom AG Ludwigshafen im April 2023 wegen geringer Schuld nach § 153 StPO eingestellt.
Gegen die fortbestehende Sicherstellung des Motorrads zur Gefahrenabwehr erhob der Kl. nach erfolgloser Durchführung des Widerspruchverfahrens Klage, die das VG Neustadt an der Weinstraße mit Urt. v. 14.2.2023 – 5 K 692/22.NW abwies. Auf die Berufung des Kl. änderte das OVG die Entscheidung des VG, hob den Sicherstellungsbescheid auf und verurteilte das beklagte Land, das sichergestellte Motorrad herauszugeben.
2 Aus den Gründen: “…
Die Berufung hat Erfolg.
I. Sie ist zulässig und begründet. Das VG hätte der Klage stattgeben müssen. Der Sicherstellungsbescheid des Bekl. v. 3.2.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v. 29.6.2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kl. in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
Zwar kann, wie hier geschehen, eine präventiven Zwecken dienende Sicherstellung nach § 22 Nr. 1 Polizei- und Ordnungsbehördengesetz – POG – grundsätzlich neben einer Sicherstellung bzw. Beschlagnahme nach den Vorschriften der StPO (sog. doppelfunktionale Maßnahme) angeordnet werden (vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 26.4.2017 – 2 StR 247/16, juris Rn 21, 25 ff.; OVG RP, Beschl. v. 20.4.2022 – 7 B 10279/22.OVG –, n.v.).
Die Voraussetzungen für eine präventive Sicherstellung des Motorrades des Kl. lagen hier indes nicht vor.
1. Nach § 22 Nr. 1 POG können die allgemeinen Ordnungsbehörden und die Polizei eine Sache sicherstellen, um eine gegenwärtige Gefahr abzuwenden. Unter einer polizeilichen Gefahr ist eine Lage zu verstehen, in der bei ungehindertem Ablauf des Geschehens ein Zustand oder ein Verhalten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung führen würde. Dabei sind vom Schutzgut der öffentlichen Sicherheit nicht nur die Individualrechtsgüter, wie Leib, Leben und Eigentum anderer erfasst, sondern auch die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.6.2008 – 6 C 21/07, juris Rn 13; OVG RP, Urt. v. 10.2.2010 – 7 A 11095/09, juris Rn 27; Rühle, Polizei- und Ordnungsrecht Rheinland-Pfalz, 9. Aufl. 2023, § 3 Rn 2 ff.). § 22 Nr. 1 POG enthält mit dem Erfordernis einer gegenwärtigen Gefahr eine zusätzliche Qualifizierung der Eingriffsvoraussetzungen. Der Begriff der gegenwärtigen Gefahr stellt strengere Anforderungen an die zeitliche Nähe und den Wahrscheinlichkeitsgrad des Schadenseintritts (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.2.1974 – I C 31/72, juris Rn 32; OVG NRW, Beschl. v. 2.3.2021 – 5 A 942/19, juris Rn 40; Beschl. v. 24.3.2021 – 5 B 1884/20, juris Rn 9; VGH BW, Urt. v. 25.10.2012 – 1 S 1401/11, juris Rn 58). Gegenwärtig ist eine Gefahr dann, wenn die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat oder unmittelbar bzw. in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht (vgl. OVG RP, Beschl. v. 25.3.2009 – 1 A 10632/08.OVG, juris Rn 26; Beschl. v. 30.10.2009 – 7 A 10723/09.OVG, juris Rn 28; Beschl. v. 26.8.2011 – 7 E 10858/11.OVG, ESOVGRP; Beschl. v. 8.5.2015 – 7 B 10383/15, juris Rn 11; OVG NRW, Beschl. v. 2.3.2021 – 5 A 942/19, juris Rn 40 f. m.w.N.; BayVGH, Beschl. v. 17.9.2015 – 10 CS 15.1435 u.a., juris Rn 21; OVG Bremen, Urt. v. 24.6.2014 – 1 A 255/12, juris Rn 25). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.2.1974 – I C 31/72, juris Rn 41).
Die polizeiliche Gef...