I. Versicherungspraxis
Die Schadensregulierungspraxis der polnischen Versicherer nach Pkw-Unfällen lässt eine deutliche Tendenz dahin gehend erkennen, dass das Vorliegen eines wirtschaftlichen Totalschadens bereits dann angenommen wird, wenn die voraussichtlichen Reparaturkosten 70–80 % des Wiederbeschaffungswerts betragen.
Um diese Grenze zu erreichen, schätzen die Versicherer den Wiederbeschaffungswert möglichst niedrig und Restwert sowie Reparaturkosten möglichst hoch. Hierzu werden zum Beispiel Teile als ersatzwürdig eingestuft, die tatsächlich repariert werden könnten. Diese Handhabe hat zur Folge, dass die Reparaturkosten künstlich erhöht werden. Dem Geschädigten wiederum eröffnet diese Regulierungspraxis Raum zur Beanstandung in zweifacher Hinsicht. Er kann sowohl die Schätzung des Wiederbeschaffungswerts als auch die Höhe der Reparaturkosten monieren und gegebenenfalls gerichtlich im Wege eines Sachverständigengutachtens klären lassen.
Zudem gilt in der Rechtsprechung polnischer Gerichte eine andere Grenze für das Vorliegen eines wirtschaftlichen Totalschadens, als sie von den Versicherern angenommen wird (hierzu weiter unten). Dem Geschädigten ist folglich zu raten, den gerichtlichen Weg zumindest dann zu bestreiten, wenn die Fehleinschätzung des Versicherers eindeutig ist. Denn erst, wenn der Geschädigte seine Forderung gerichtlich geltend macht, sind die Versicherer eher geneigt, ihre ursprüngliche Schätzung zu korrigieren.
Gewiss kann man in dieser Schadensregulierungspraxis einen Versuch der Verhinderung der Bereicherung des Geschädigten am Verkehrsunfall sehen. Ob der Geschädigte sich überhaupt am Unfall bereichern kann, ist indes höchst zweifelhaft.
Nach der auch im polnischen Recht zu findenden Differenzhypothese wird der Schaden durch den Vergleich der Vermögenspositionen vor und nach dem Unfall ermittelt. Der Schädiger ist folglich zum Schadensersatz verpflichtet, wobei es dem Geschädigten offen steht, wie er mit seiner Schadensposition umgeht. Er kann entweder den Schaden auf Kosten des Schädigers im Wege der Naturalrestitution reparieren lassen oder sich die Schadensersatzsumme vom Schädiger, beziehungsweise dessen Haftpflichtversicherung, auszahlen lassen. Oftmals wird der zweite Weg gewählt, wobei der Schaden entweder überhaupt nicht oder in Eigenregie behoben wird. Beim Geschädigten verbleibt dann üblicherweise ein Geldbetrag, da die gutachterlich festgestellten Reparaturkosten für gewöhnlich eine Reparatur in einer Fachwerkstatt unter Verwendung von Originalteilen als Grundlage haben. Diese Vorgehensweise führt aber nicht zur Bereicherung des Geschädigten, wie die Versicherer meinen könnten, sondern zur Schadenskompensation. Diese Ansicht vertritt auch die Zivilkammer des obersten polnischen Gerichtshofs.
II. Rechtsprechung
Die sich aus dem Haftpflichtversicherungsrecht ergebende Schadensersatzpflicht der Versicherungen ist vor dem Hintergrund der allgemeinen, sich aus dem Zivilrecht ergebenden Schadensersatzpflicht des Schädigers zu betrachten. Danach erfüllt der Schadensersatz eine Kompensationsfunktion mit der Folge, dass der Geschädigte durch das schädigende Ereignis weder entreichert noch bereichert werden darf.
Die Schadensersatzpflicht des Schädigers entsteht mit Eintritt des schädigenden Ereignisses und hängt nicht davon ab, ob der Geschädigte den ursprünglichen Zustand des Fahrzeugs durch eine Reparatur herbeiführt. Sie umfasst vor allem den Geldbetrag, der zur Reparatur des beschädigten Fahrzeugs notwendig und wirtschaftlich vertretbar ist. Sollte durch die Reparatur eine Wertsteigerung des Fahrzeugs im Vergleich zu dessen ursprünglichen Wert vor dem Unfall eintreten, so muss sich der Geschädigte dies anrechnen lassen (Bereicherungsverbot des Schadensersatzes). Dieser seltene Fall der Wertsteigerung könnte beispielsweise auch eintreten, wenn Vorschäden bei der Reparatur mitrepariert werden. Die Ansicht der Rechtsprechung, dass das Fahrzeug durch die Verwendung von Neuteilen eine Wertsteigerung erfährt, ist nicht mehr aktuell.
Auch nach polnischem Recht steht dem Geschädigten ein Wahlrecht zwischen der Reparatur des Fahrzeugs auf Rechnung des Schädigers beziehungsweise der Haftpflichtversicherung oder der Auszahlung des zur Reparatur nötigen Betrags zu. Der Versicherer kann dem Geschädigten nicht das Wahlrecht abnehmen, indem er ihm eine bestimmte Form des Schadensersatzes aufzwingt, nur weil diese für den Versicherer wirtschaftlich vorteilhafter ist. Dieser Grundsatz findet seine Grenze, sobald die Reparatur unmöglich, zu schwierig oder zu kostspielig sein sollte. Klare ...