Zu den Fallgruppen des Anscheinsbeweises im Verkehrsrecht vgl. Janecek, zfs 2015, 244.
1. Die Entscheidung macht die Grenzen der Heranziehung des Anscheinsbeweises im Verkehrsrecht deutlich. Die häufig vorkommende Unfallkonstellation der Kollision eines linksabbiegenden Kfz mit einem sich rückwärts in Geradeausfahrt befindlichen Fahrzeug wird unter Prüfung der Mitverantwortung beider Verkehrsteilnehmer unter Heranziehung und Verwerfung etwaiger Anscheinsbeweise dargestellt.
2. Der gewohnheitsrechtlich anerkannte Grundsatz der Anwendung des Anscheinsbeweises (vgl. dazu BGH NJW 1953, 69; Greger, VersR 1990, 1081; Metz, NJW 2008, 2806; Stück, JuS 1996, 163) ist Bestandteil der Beweiswürdigung des Richters, die diesen berechtigt und verpflichtet, die durch Erfahrungssätze begründete Wahrscheinlichkeit der Ursächlichkeit und des Verschuldens eines Verhaltens des Unfallbeteiligten im Prozess festzustellen (vgl. die Nachweise bei Stück, a.a.O., S. 164). Grundvoraussetzung für die Heranziehung des Anscheinsbeweises ist dabei ein aus einem typischen Geschehensablauf abgeleiteter Erfahrungssatz, der durch die Würdigung nicht nur des konkreten Kerngeschehens, sondern durch die "umfassende Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben" (BGH NJW 2012, 608), abgeleitet wird (so auch OLG München NZV 1969, 277; Lepa, NZV 1992, 130 f.; Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl., § 18 Rn 43). Die Bestimmung des Vorliegens eines Anscheinsbeweises wird dann verfehlt, wenn eine Gesamtschau von Kerngeschehen und davor liegendem Geschehen nicht angestellt wird, sondern plakativ unter alleinigem Abstellen auf das Kerngeschehen festgestellt wird, gegen den Unfallgegner des Anspruchstellers als Auffahrender, Ausfahrender, Spurwechsler und Linksabbieger spreche bereits der Beweis des ersten Anscheins (vgl. Greger/Zwickel, a.a.O.). Eine solche Feststellung übergeht die erforderliche Gesamtschau und knüpft nur an das letzte Geschehen an, ohne die Vorgeschichte zu würdigen (vgl. BGH NJW 2012, 608; BGH VersR 1986, 344; BGH NZV 1996, 277; OLG Hamm NZV 2010, 28).
3. Entscheidende Bedeutung kommt der Bestimmung des Erfahrungssatzes zu, aus dem der Anscheinsbeweis abgeleitet wird. Quelle für die Bestimmung des Erfahrungssatzes im Verkehrsrecht sind die Bestimmungen der StVO, die das Verhalten der Verkehrsteilnehmer regeln und der Gefahrenabwehr dienen, so dass bei abweichendem Verhalten hieran sowohl die Vermutung der Unfallursächlichkeit wie des Verschuldens des Verkehrsteilnehmers anknüpft (vgl. Stück, a.a.O., S. 154 ff.). Die Grenze des Anscheinsbeweises wird dann überschritten und eine einwandfreie Beweiswürdigung verfehlt, wenn – wie im entschiedenen Fall – von dem erstinstanzlichen Gericht zu Unrecht ein gegen den in die Grundstückseinfahrt Einbiegenden sprechender Erfahrungssatz ("er muss nicht ausreichend auf den rückwärtigen Verkehr geachtet haben") angenommen wird. Die Verkennung fehlender Typizität, die Annahme eines vermeintlichen Erfahrungssatzes stellt eine typische Fehlerquelle für die Beweiswürdigung durch Heranziehung des Anscheinsbeweises dar (vgl. auch Staab, DAR 2015, 241).
RiOLG a.D. Heinz Diehl
zfs 11/2015, S. 614 - 617