GG Art. 2 Abs. 2 S. 1 Art. 14 Abs. 1; StVO § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, Nr. 5; VwGO § 114
Leitsatz
1. Die Anordnung verkehrsbeschränkender Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 und 5 StVO steht im Ermessen der Straßenverkehrsbehörden. Maßgeblich für die Ermessensausübung der Behörde ist eine wertende Gesamtbeurteilung. Ob unzumutbare Beeinträchtigungen vorliegen, aufgrund derer straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen sind, ist eine Frage des Einzelfalls. 2. Den von Straßenlärm und verkehrsbedingten Erschütterungen Betr. steht regelmäßig nur ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zu. Eine Ermessensreduzierung "auf Null", die zum Ergreifen konkreter Verkehrsbeschränkungen bzw. einer entsprechenden gerichtlichen Verpflichtung führen könnte, kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht.
OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 8.8.2019 – OVG 1 N 104.17
1 Aus den Gründen:
"… II. (…) 1b. aa. Der Kl. stützt sein Begehren auf straßenverkehrsrechtliches Einschreiten im Ansatz zutreffend auf § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 und 5 StVO. Danach steht die Anordnung verkehrsbeschränkender Maßnahmen im Ermessen der Straßenverkehrsbehörde. Den durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG in seinen Individualrechten geschützten Betr. steht regelmäßig nur ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zu, wie das VG in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 6.9.2002 – 2 C 9.02 – juris Rn 8; VGH Kassel, Urt. v. 19.2.2014 – 2 A 1465/13 – juris Rn 18) zutreffend ausgeführt hat. Dieser Anspruch verdichtet sich nur dann zur Pflicht auf Anordnung von konkreten Verkehrsmaßnahmen i.S.v. § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 und 5 i.V.m. § 45 Abs. 9 Sätze 1 und 2 StVO, wenn dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist und aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Rechtsgutbeeinträchtigung erheblich übersteigt. Selbst bei Überschreiten der im Fall des Kl. gemessenen Lärmimmissionen nimmt die obergerichtliche Rechtsprechung regelmäßig nur eine Verpflichtung der Behörde zur fehlerfreien Ermessensausübung an, nicht aber eine Ermessensreduzierung “auf Null', die zum Ergreifen konkreter Verkehrsbeschränkungen bzw. einer entsprechenden gerichtlichen Verpflichtung führen könnte (vgl. bereits BVerwG, Urt. v. 4.6.1986 – 7 C 76.84 – BVerwGE 74, 234-241, juris Rn 12 ff. [14 f.]; Senatsbeschl. v. 3.7.2013 – OVG 1 S 41.13 – [n.v.] BA, S. 3 f.; OVG Bautzen, Beschl. v. 8.6.2009 – 3 B 23/09 – juris Rn 2 ff. [4]; VGH München, Beschl. v. 23.6.2008 – 11 CE 08.745 u.a. – juris Rn 19; OVG Münster, Urt. v. 1.6.2005 – 8 A 2350/04 – juris Rn 34; grds. auch OVG Schleswig, Urt. v. 9.11.2017 – 2 LB 22/13 – juris Rn 131 ff. [136], jeweils m.w.N.)."
bb. Das VG hat das Vorliegen einer solchen Ermessensreduzierung “auf Null', wonach das begehrte Durchfahrtsverbots als “einzig rechtlich vertretbare Entscheidung' in Betracht kommen müsste, zu Recht verneint.
(1) Nach § 114 S. 1 VwGO hat das VG grds. nur zu prüfen, ob die Verwaltung den ihr eingeräumten Ermessensspielraum ausgeschöpft hat, die gesetzlichen Grenzen der Ermessensbetätigung überschritten und die nach dem Zweck der Ermessensermächtigung für die Entscheidung relevanten Gesichtspunkte bei ihrer Entscheidung berücksichtigt hat. Das Gericht darf die getroffene Entscheidung nur anhand derjenigen Erwägungen überprüfen, die die Behörde angestellt hat. Tragen diese Erwägungen – wie hier – nicht, so ist die Entscheidung rechtswidrig und muss aufgehoben werden. Das VG ist hingegen nicht befugt, die behördliche Entscheidung aus Gründen, die für die Verwaltung nicht oder nicht allein ausschlaggebend waren, im Ergebnis aufrecht zu erhalten (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.5.2016 – 10 C 8.15 – juris Rn 13 m.w.N.) oder sich aus Erwägungen, welche die Behörde (noch) nicht angestellt hat, an die Stelle der Behörde setzen und das Ermessen selbst ausüben. In diesem Fall würde das VG den ihm durch § 114 S. 1 VwGO vorgegebenen Prüfungsrahmen überschreiten.
Unabhängig davon scheidet bei straßenverkehrsrechtlichen Maßnahmen eine Ermessensreduzierung “auf Null' i.d.R. – wie auch hier – aus, weil die Behörde eine Gesamtschau bzw. Gesamtbilanz vorzunehmen hat (vgl. nur OVG Schleswig, Urt. v. 9.11.2017, a.a.O., juris Rn 136; OVG Münster, Urt. v. 28.10.2010 – 11 A 1648/06 – juris Rn 30). Denn es ist zu prüfen, ob die an einer Stelle unzuträglichen Verhältnisse nur um den Preis gebessert werden könnten, dass an anderer Stelle neue Unzuträglichkeiten auftreten. Im Ergebnis würde sich die Gesamtsituation verschlechtern, wenn etwa die Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs in nicht hinnehmbarer Weise beeinträchtigt oder wegen Änderungen von Verkehrsströmen noch gravierendere Lärmbeeinträchtigungen für Anlieger anderer Straßen drohten. Deshalb ist von der Behörde stets im Blick zu behalten, wie sich eine potentielle Maßnahme auf die Verkehrsfunktion insgesamt auswirken würde, ob sie Verdrängungswirkungen hätte, die möglicherweise ein Maßnahmenpaket unter Einbezieh...