StPO § 147
Leitsatz
Der Betroffene ist durch die Vorenthaltung der mit seiner verfahrensgegenständlichen Messung in Zusammenhang stehenden Messreihe in seinem Recht auf eine faire Verfahrensgestaltung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt.
OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.8.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/20
Sachverhalt
Das Amtsgericht hat wegen fahrlässigen Überschreitens der Höchstgeschwindigkeit eine Geldbuße von 100 EUR sowie ein einmonatiges Fahrverbot verhängt. Die mobile Geschwindigkeitsüberwachung fand mit dem Geschwindigkeitsmessgerät PoliScan Speed der Firma Vitronic statt. Das OLG Stuttgart hat auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
2 Aus den Gründen:
[…] III. Das nach § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsmittel hat (vorläufig) Erfolg, soweit es mit der auf die Verletzung des fair-trial-Grundsatzes gestützten Verfahrensrüge geltend macht, dem Antrag des Betroffenen auf Überlassung der mit seiner Messung in Zusammenhang stehenden "Messreihe" sei nicht entsprochen und damit seine Verteidigung unzulässig beschränkt worden (§ 338 Nr. 8 StPO).
Die Verfahrensrüge, mit der der Betroffene eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) beanstandet, greift vorliegend durch und führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung. Einer Erörterung der weiteren Verfahrens- und Sachrügen bedarf es daher nicht.
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Nach Erlass des Bußgeldbescheids gegen den Betroffenen beantragte seine Verteidigerin am 27.8.2019 vor der Verwaltungsbehörde u.a. die Einsicht in die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe. Dies lehnte die Verwaltungsbehörde mit Schreiben vom 29.8.2019 ab und übergab die Sache am 3.9.2019 an die Staatsanwaltschaft Ellwangen (Jagst), die sie dem Amtsgericht Ellwangen (Jagst) vorlegte. Die Verteidigerin widersprach am 6.9.2019 gegenüber der Verwaltungsbehörde der Abgabe, da sie keine Gelegenheit zur Nutzung des Rechtsbehelfs gemäß § 62 Abs. 1 OWiG bezüglich der Weigerung der Überlassung weiterer Unterlagen erhalten habe. Nachdem am 26.9.2019 von ihr beim Amtsgericht an ihren Schriftsatz erinnert worden war, fragte das Amtsgericht bei der Staatsanwaltschaft an, ob Einverständnis mit einer Zurückverweisung gemäß § 69 Abs. 5 OWiG bestehe, was diese bejahte. Mit Beschl. v. 2.10.2019 verwies das Amtsgericht darauf das Verfahren an die Verwaltungsbehörde zurück. Bereits am 26.9.2019 hatte der von der Verteidigerin mit der technischen Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung und Auswertung der Messdaten beauftragte Sachverständige die benötigten Messdaten bei der Verwaltungsbehörde angefordert, worauf er den einzelnen Falldatensatz der Einzelmessung sowie die Token-Datei, das Passwort, die Statistikdatei und die Case-List, nicht jedoch die beantragte gesamte Messreihe übersandt bekam. Mit Schriftsatz vom 24.10.2019 stellte die Verteidigerin den Antrag gemäß § 62 Abs. 1 OWiG, die Verwaltungsbehörde u.a. anzuweisen, die Falldatensätze der gesamten Messreihe zur Verfügung zu stellen. Mit Beschl. v. 7.11.2019 wies das Amtsgericht den Antrag insoweit als unbegründet ab, da der Betroffene darauf keinen Anspruch habe. Der Messreihe komme allenfalls die Funktion eines "amtlich verwahrten Beweisstückes" i.S.d. § 46 Abs. 1 OWiG, § 147 Abs. 1 2. Alt. StPO zu, für die nur ein Besichtigungsrecht am amtlichen Verwahrort bestehe. Am 16.12.2019 gab die Verwaltungsbehörde die Sache erneut an die Staatsanwaltschaft ab, die die Akten dem Amtsgericht vorlegte. Diese bestimmte den Termin zur Hauptverhandlung auf 26.2.2020, der auf Antrag der Verteidigerin auf 8.6.2020 verlegt wurde. Mit Schriftsatz vom 4.2.2020 beantragte die Verteidigerin gegenüber dem Amtsgericht erneut die Einsicht in die fehlenden Unterlagen, was dieses mit Verfügung vom selben Tag ablehnte. Hiergegen legte die Verteidigerin am 16.2.2020 Beschwerde ein. Mit Beschl. v. 30.3.2020 verwarf das Landgericht Ellwangen (Jagst) die Beschwerde des Betroffenen als unzulässig, vermerkte jedoch in einem obiter dictum, dass es unter Verweis auf Rechtsprechung des OLG Karlsruhe und des 1. Strafsenats des OLG Stuttgart "nahe liege", dem Antrag des Betroffenen "nunmehr nachzukommen". Im nochmals verlegten Hauptverhandlungstermin am 23.9.2020 beantragte der in Untervollmacht anwesende Verteidiger des Betroffenen erneut u a., die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe mit Statistikdateien und Case-Lists durch die Verwaltungsbehörde zur Verfügung stellen zu lassen und die Hauptverhandlung auszusetzen. Das Amtsgericht wies dies durch Beschl. v. selben Tag zurück. Um auszuführen, was sich aus den beantragten Messunterlagen ergeben hätte und für den Betroffenen geltend gemacht worden wäre, versuchte die Verteidigerin mit Schriftsatz vom 16.10.2020 nochmals, über die Verwaltungsbehörde Einsicht in die fehlenden Unterlagen zu erhalten, was nicht gelang.
2. Die Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens ist vorliegend erfolgreich...