GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 398 Abs. 1
Leitsatz
Hat die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen der von ihr vernommenen Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen, kann in der Berufungsinstanz der Zeugenbeweis durch die Verwertung der Niederschrift der erstinstanzlichen Zeugenvernehmung nur ersetzt werden, wenn der persönliche Eindruck, den der Zeuge bei seiner Vernehmung hinterließ oder bei einer erneuten Vernehmung hinterlassen würde, für die Würdigung seiner Aussage nicht entscheidend ist. Anderen falls hat eine Wiederholung der Beweisaufnahme zu erfolgen.
BGH, Beschl. v. 27.4.2021 – VI ZR 845/20
Sachverhalt
Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.
Der Kläger fuhr im Juli 2018 mit seinem Pkw auf die BAB 3. Die Beschleunigungsspur war aufgrund einer Baustelle verkürzt. Sie war von der rechten Fahr bahn durch eine gestrichelte gelbe Linie abgegrenzt. Der Beklagte zu 2 befuhr mit dem bei der Beklagten zu 1 versicherten Lkw der Beklagten zu 3 die rechte Fahrbahn der Autobahn. Es kam zur Kollision der Fahrzeuge. Der Unfallhergang ist zwischen den Parteien streitig. Der Kläger behauptet, der Lkw sei über die gestrichelte gelbe Linie auf die Beschleunigungsspur gefahren und habe dort das Fahrzeug des Klägers gerammt. Die Beklagten behaupten, der Kläger sei ohne Nutzung der Beschleunigungsspur direkt auf die rechte Fahrbahn gefahren, wo es zur Kollision gekommen sei.
Das Landgericht hat, nachdem es den Zeugen K. (Beifahrer des Klägers) zum Unfallhergang sowie die Zeugen Be. und Bü. (Polizeibeamte) zur polizeilichen Aufnahme des Unfalls vernommen hat, die Klage abgewiesen und dies allein auf die fehlende Aktivlegitimation des Klägers gestützt.
Die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
2 Aus den Gründen:
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass das Landgericht die Klage nicht an der Aktivlegitimation habe scheitern lassen dürfen, ohne die hierzu angebotenen Beweise zu erheben. Dennoch sei die Berufung unbegründet. Der Kläger habe nicht bewiesen, dass der Be- klagte zu 2 die Fahrspur gewechselt oder nach rechts von dieser abgekommen sei. Für diese Behauptung spreche neben seiner Darstellung lediglich die Aussage des Zeugen K. An der Richtigkeit dieser Aussage verblieben allerdings insbesondere vor dem Hintergrund der Aussage der Zeugin Be. zu viele Zweifel, als dass allein daraus eine richterliche Überzeugung gewonnen werden könne. Nach allgemeiner Lebenserfahrung sei es wahrscheinlicher, dass derjenige, der sich auf der Beschleunigungsspur befinde, einen Fahrbahnwechsel vornehme, als dass derjenige, der auf der Autobahn fahre, auf die Beschleunigungsspur gerate. Dies reiche zwar für die Annahme eines Anscheinsbeweises nicht aus, sei aber bei der Bewertung einer Zeugenaussage zu berücksichtigen.
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut zum Unfallhergang vernommen und dadurch den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.
a) Gemäß § 398 Abs. 1 ZPO steht die wiederholte Vernehmung eines Zeugen im Ermessen des Berufungsgerichts. Diesem Ermessen sind aber Grenzen gesetzt. So muss das Berufungsgericht einen bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es dessen Aussage anders würdigen will als die Vorinstanz. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Aussage betreffen (Senatsurteile vom 23.6.2020 – VI ZR 435/19, MDR 2020, 999 Rn 18; vom 10.3.1998 – VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222, 2223, juris Rn 12; Senatsbeschluss vom 25.7.2017 – VI ZR 103/17, VersR 2018, 249 Rn 9 m.w.N.). Trägt das Berufungsgericht dem nicht Rechnung, liegt darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG (Senatsbeschluss vom 25.7.2017 – VI ZR 103/17, VersR 2018, 249 Rn 9; BGH, Beschlüsse vom Juli 2020 – II ZR 20/20, juris Rn 11; vom 17.9.2013 – XI ZR 394/12, NZG 2013, 1436 Rn 10; BVerfG, NJW 2011, 49 Rn 11 ff.).
Entsprechendes gilt, wenn die erste Instanz von der Würdigung der Aus- sagen der von ihr vernommenen Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen hat (vgl. Senatsurteil vom 7.7.1981 – VI ZR 48/80, NJW 1982, 108, 109, juris Rn 7-10; BGH, Urt. v. 16.12.1999 – III ZR 295/98, NJW-RR 2000, 432, 433, juris Rn 23 m.w.N.). In der Ber...