Dreh- und Angelpunkt der gesamten Diskussion um das Angehörigenschmerzensgeld ist die Feststellung des BGH, "wonach das geltende Recht Ersatzansprüche für seelischen Schmerz, soweit dieser nicht Auswirkung der Verletzungen des (eigenen) Körpers oder der (eigenen) Gesundheit ist, versagt". Diese Aussage ist in sich schlüssig und richtig. Fraglich ist nur, ob derjenige, der einen Menschen beispielsweise schwer oder tödlich verletzt, damit nicht automatisch auch den oder die Menschen mitverletzt, die dem Opfer besonders nahe stehen. Rechtsdogmatisch gewendet heißt die Frage, ob es in diesen Fällen wirklich an der Unmittelbarkeit der Verletzung fehlt.
Der Schädiger verletzt zunächst einmal unmittelbar das Opfer. Die Persönlichkeit des Opfers ist aber zugleich Teil der Persönlichkeit des Angehörigen, der dem Opfer besonders nahe steht. Das heißt der Schädiger verletzt im Zeitpunkt der Schädigungshandlung nicht nur den Körper des Opfers, sondern zugleich und zwar unmittelbar, ohne jeden Zwischenschritt und ohne jedes weitere Tun, auch die Persönlichkeit und den Körper des oder der nahen Angehörigen. Der Schädiger verletzt unmittelbar also zwei oder mehr Personen. Die Persönlichkeit des Opfers und die Persönlichkeit des oder der Angehörigen verschränken sich miteinander – verletzt man die eine Person, so verletzt man zugleich auch die andere. Opfer und Angehörige bilden eine körperlich-psychische Einheit – die körperliche Integrität des Opfers ist Teil der körperlichen Integrität des Angehörigen.
In der Psychologie werden Phänomene dieser Art unter dem Stichwort Familienbindung und vor allem Kameradschaft beim Militär diskutiert. Aus dem soldatischen Bereich ist bekannt, dass psycho-traumatische Verletzungen eines Soldaten durch Tod oder schwere Verletzung eines nahe stehenden Kameraden unmittelbar durch das Miterleben des Kameradentodes oder der Kameradenverletzung ausgelöst werden können. Die verschiedenen Auslandseinsätze der Bundeswehr haben für diese Zusammenhänge inzwischen nicht nur das Bewusstsein geschärft, sondern auch zu einer gelebten Praxis geführt. Traumatisierungen von Soldaten durch das Miterleben schwerer Verletzungen und Tod des/der Kameraden/in werden in der Verwaltungspraxis des Bundes als unmittelbare Eingriffe in den Körper des miterlebenden Soldaten eingestuft und entschädigt. Dabei genügen für eine PTBS nach der "Internationalen Klassifikation der Krankheiten" (ICD10) "belastende, außergewöhnliche Ereignisse". Sehr ähnlich hat das OLG Koblenz am 8.3.2010 im Zusammenhang mit zwei Polizeibeamten entschieden, die von drei alkoholisierten Männern angegriffen wurden. Einer der beiden Beamten, der den Schusswaffengebrauch durch seinen Kollegen miterleben musste, wurde im Juli 2001 wegen Dienstunfähigkeit aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.
Aus der Perspektive der Fallgestaltungen Familienbindung sowie soldatische/polizeiliche Kameradschaft wird deutlich, dass es immer um "unmittelbare" Eingriffe in die körperliche Integrität der miterlebenden nahen Angehörigen/Kameraden geht. Der Verletzungsakt betrifft also nicht nur eine Person, sondern all diejenigen, die dem jeweiligen Opfer besonders nahe standen – es handelt sich in diesen Fällen in Wahrheit um Vorgänge, in denen mehrere Personen gleichzeitig und gleichartig verletzt werden.
Auf der Ebene dieser Angehörigen geht es somit – genauso wie es der BGH am 4.4.1989 formuliert hat – um Auswirkungen der Verletzungen des eigenen Körpers und der eigenen Gesundheit, denn die Angehörigen leiden – worauf der BGH völlig zutreffend hinweist – oft schweren psychischen/seelischen Schmerz durch die Verletzungshandlung des Schädigers.
Dem Schädiger sind diese unmittelbaren Verletzungen der Angehörigen auch ohne weiteres kausal zurechenbar, denn jedem Schädiger ist bewusst, dass Menschen, die er verletzt, möglicherweise Angehörige haben könnte, die ihm besonders nahe stehen. Die Psychologen messen in diesen Fällen den Stressfaktor und beschreiben den Zustand des Angehörigen als schwer traumatisiert.