[28] "… Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu beantworten ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 dahin auszulegen ist, dass ein Eisenbahnunternehmen berechtigt ist, in seine Allgemeinen Beförderungsbedingungen eine Klausel aufzunehmen, wonach es von seiner Pflicht zur Fahrpreisentschädigung bei Verspätungen befreit ist, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt oder einem der in Art. 32 Abs. 2 der ER CIV angeführten Gründe beruht."
[29] Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007 Mindestentschädigungen vorsieht, die die Fahrgäste bei Verspätungen von den Eisenbahnunternehmen verlangen können und deren Höhe sich nach dem Preis der Fahrkarte richtet.
[30] Nach Art. 17 Abs. 4 dieser Verordnung haben die Fahrgäste jedoch keinen Anspruch auf Entschädigung, wenn sie bereits vor dem Kauf ihrer Fahrkarte über eine Verspätung informiert wurden oder wenn die Verspätung weniger als 60 Minuten beträgt. Außerdem werden nach Art. 17 Abs. 1 letzter Unterabsatz der Verordnung Verspätungen, für die das Eisenbahnunternehmen nachweisen kann, dass sie außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des EG-Vertrags eingetreten sind, bei der Berechnung der Verspätungsdauer nicht berücksichtigt.
[31] Hingegen ist in keiner Vorschrift der Verordnung Nr. 1371/2007 vorgesehen, dass Eisenbahnunternehmen von der in Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung festgelegten Entschädigungspflicht befreit sind, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruht.
[32] Allerdings sieht Art. 15 der Verordnung Nr. 1371/2007 vor, dass die Haftung der Eisenbahnunternehmen für Verspätungen, verpasste Anschlüsse und Zugausfälle vorbehaltlich der Art. 16 bis 18 dieser Verordnung in Art. 32 der ER CIV geregelt ist.
[33] Wie aus dem 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1371/2007 hervorgeht, hielt es der Unionsgesetzgeber nämlich für wünschenswert, dass die Regelung für die Entschädigung von Fahrgästen bei Verspätungen auf der gleichen Grundlage beruht wie das internationale System im Rahmen des COTIF, zu dem die ER CIV gehören.
[34] Nach Art. 32 Abs. 1 der ER CIV haftet das Eisenbahnbeförderungsunternehmen dem Reisenden für den Schaden, der dadurch entsteht, dass die Reise wegen Ausfall, Verspätung eines Zugs oder Versäumnis des Anschlusses nicht am selben Tag fortgesetzt werden kann. Der Schadensersatz, den der Fahrgast unter diesen Umständen beanspruchen kann, umfasst die dem Reisenden im Zusammenhang mit der Übernachtung und mit der Benachrichtigung der ihn erwartenden Personen entstandenen angemessenen Kosten.
[35] Art. 32 Abs. 2 der ER CIV nennt Gründe für eine Befreiung des Beförderers von der in dieser Vorschrift festgelegten Haftung.
[36] In diesem Zusammenhang fragt das vorlegende Gericht erstens, ob ein Eisenbahnbeförderungsunternehmen unter den in Art. 32 Abs. 2 angeführten Umständen berechtigt ist, sich von seiner Pflicht zur Entschädigung des Fahrgasts nach Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 zu befreien.
[37] Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich Art. 32 der ER CIV auf den Anspruch der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr auf Ersatz des infolge Verspätung oder Ausfall eines Zuges entstandenen Schadens bezieht.
[38] Hingegen soll die in Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 vorgesehene Entschädigung, da sie auf der Grundlage des Preises der Fahrkarte berechnet wird, den vom Fahrgast als Gegenleistung für eine Dienstleistung, die letztlich nicht im Einklang mit dem Beförderungsvertrag erbracht wurde, gezahlten Preis kompensieren. Außerdem handelt es sich dabei um einen finanziellen Ausgleich in pauschalierter und standardisierter Form, während die in Art. 32 Abs. 1 der ER CIV vorgesehene Haftungsregelung mit einer individualisierten Bewertung des erlittenen Schadens verbunden ist.
[39] Da der Zweck und die Durchführungsmodalitäten der oben angeführten Vorschriften somit voneinander abweichen, kann die vom Unionsgesetzgeber in Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 vorgesehene Entschädigungsregelung nicht der Haftungsregelung für das Eisenbahnbeförderungsunternehmen in Art. 32 Abs. 1 der ER CIV gleichgestellt werden.
[40] Daraus folgt im Licht von Art. 15 der Verordnung Nr. 1371/2007, dass die Entschädigung der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr nach Art. 17 dieser Verordnung diese nicht daran hindert, überdies nach Art. 32 Abs. 1 der ER CIV oder, in Anwendung von deren Art. 32 Abs. 3, auf der Grundlage des einschlägigen nationalen Rechts eine Schadensersatzklage zu erheben.
[41] Diese Auslegung ist im Übrigen vereinbar mit den erläuternden Bemerkungen zu den einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Personen (CIV), der im “Bericht des Zentralamts über die Revision des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9.5.1980 und erläuternde Bemerkungen zu den von der 5. Generalversammlung angenommenen Texten’ vom 1.1.2011 enthalten ist; darin heißt es: “Verspätungen im Reiseverkehr stellen eine typische Schlechterfüllung des B...