BGB § 249 Abs. 2 S. 1 § 823 Abs. 1; StVG § 7 Abs. 1 § 11 S. 1
Leitsatz
Ein Unfallgeschädigter kann die durch eine ärztliche Untersuchung oder Behandlung entstandenen Kosten vom Schädiger nur ersetzt verlangen, wenn der Unfall zu einer Körperverletzung geführt hat. Die bloße Möglichkeit oder der Verdacht einer Verletzung genügt dafür nicht.
BGH, Urt. v. 17.9.2013 – VI ZR 95/13
Sachverhalt
Die klagende Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung macht gegen die beklagte Haftpflichtversicherung den Ersatz von Aufwendungen geltend, die sie für ihre Versicherten G und F nach einem Verkehrsunfall erbracht hat. Der von F gefahrene Pkw, in dem sich G als Beifahrerin befand, kollidierte mit einem entgegenkommenden Fahrzeug. Der beklagte Haftpflichtversicherer ist in vollem Umfang haftbar. Die Kl. hat behauptet, G habe einen Tag nach dem Unfall starke Verspannungen im Hals-, Nacken- und Rückenbereich verspürt und deshalb einen Chirurgen aufgesucht. Dieser habe einen erheblichen Druckschmerz im Bereich der oberen und mittleren Halswirbelsäule und die Vermeidung einer Drehung des Kopfes festgestellt. Der Chirurg habe G wegen des Verdachts einer Querfortsatzfraktur des dritten Halswirbelkörpers in ein Krankenhaus überwiesen. Eine dort durchgeführte MRT-Untersuchung habe keine Anhaltspunkte für eine Fraktur oder eine Verdrehung der Wirbelsäule ergeben. Nach Rückläufigkeit der Beschwerden am zweiten Tag des Krankenhausaufenthalts wurde G entlassen und anschließend psychotherapeutisch weiterbehandelt. F begab sich am 10.1.2006 wegen Schmerzen im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule in ärztliche Behandlung, da sie Bewegungseinschränkungen und ein Ziehen wahrgenommen hatte.
Die Kl. erstattete die Kosten der Erstbehandlung, die Kosten für die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes, für die stationäre Behandlung, für die Zervikalstütze und die verordnete Krankengymnastik ihrer beiden Mitglieder.
Das AG hat der Klage nach Beweisaufnahme durch Vernehmung von Zeugen und eines Gutachtens zur Kollisionsgeschwindigkeit und der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung stattgegeben. Die sich dagegen richtende Berufung der Bekl. führte nach Einholung eines biomechanischen und medizinischen Gutachtens zur Abweisung der Klage.
Die zugelassene Revision der Kl. führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.
2 Aus den Gründen:
[7] "… 2. Die Revision hat Erfolg."
[8] a) Rechtsfehlerfrei geht das BG allerdings davon aus, dass ein Anspruch der Kl. auf Ersatz der geltend gemachten Untersuchungs- und Behandlungskosten nur gegeben ist, wenn der Unfall zu einer Körperverletzung ihrer Versicherten geführt hat (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB). Ist eine Primärverletzung nicht bewiesen, fehlt es an einer Rechtsgutverletzung i.S.d. Haftungstatbestände der §§ 823 BGB, 11 StVG. Der bloße Verletzungsverdacht steht einer Verletzung haftungsrechtlich nicht gleich (OLG Hamm, r+s 2003, 434, 436; Jahnke in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl., Vor § 249 BGB Rn 87 m.w.N.).
[9] b) Das BG hält es für nicht bewiesen, dass die Versicherten G. und F. infolge des Unfalls eine HWS-Distorsion erlitten haben. Diese – vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbare (vgl. Senatsurt. v. 8.7.2008 – VI ZR 274/07, VersR 2008, 1126 Rn 7 m.w.N.) – tatrichterliche Beurteilung lässt keinen Rechtsfehler erkennen und wird von der Revision auch nicht in Frage gestellt.
[10] c) Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg gegen die Annahme des BG, es fehle im Streitfall an dem Nachweis jeglicher Verletzungen. Diese Beurteilung des BG hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Zwar ist die Würdigung der Beweise grds. dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gem. § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr. vgl. Senatsurt. v. 16.4.2013 – VI ZR 44/12, VersR 2013, 1045 Rn 13 m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung des BG nicht.
[11] aa) Nach § 286 Abs. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Vorliegend hat das BG nicht ausreichend berücksichtigt, dass die vom AG als Zeuginnen vernommenen Versicherten G und F bekundet haben, am Tag nach dem Unfall Beschwerden bzw. Schmerzen im Halsbereich verspürt zu haben. Das AG hat diese Aussagen für glaubhaft erachtet und sich die Überzeugung gebildet, dass die von G und F geklagten Beschwerden unfallursächlich waren. Die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils lassen nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkenn...