BGB §§ 842, 943; SGB VI § 1 S. 1 Nr. 2a; SGB IX § 136; SGB X § 119 Abs. 1 S. 1 Hs. 1
Leitsatz
1. Nimmt ein behinderter Mensch an Maßnahmen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen teil, wird durch die Aufnahme in die Werkstatt eine Rentenversicherungspflicht nach § 1 S. 1 Nr. 2a SGB VI begründet.
2. Wenn der Rehabilitationsträger die Voraussetzungen für Leistungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsverfahren bejaht hat und der behinderte Mensch auf dieser Grundlage in die Werkstatt aufgenommen wurde, kann die daran anknüpfende – und für die Legalzession nach § 119 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 SGB X maßgebliche – Rentenversicherungspflicht nicht dadurch infrage gestellt werden, dass die der Aufnahme zugrunde liegende Prognose in Zweifel gezogen wird.
BGH, Urt. v. 16.6.2015 – VI ZR 416/14
Sachverhalt
Der klagende Rentenversicherungsträger nimmt den beklagten Landkreis aus übergegangenem Recht wegen ausgefallener Rentenversicherungsbeiträge in Anspruch. Der Geschädigte erlitt bei seiner Geburt aufgrund ärztlicher Versäumnis am 1.1.1990 einen Hirnschaden. Der Bekl. haftet hierfür als Krankenhausträger. In den Jahren 2008 und 2009 nahm der Geschädigte zeitweise an einer Berufsbildungsmaßnahme in einer Werkstatt der Lebenshilfe teil. Im Eingangsverfahren wurde davon ausgegangen, dass der Geschädigte wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistungen erbringen könne. Die Berufsbildungsmaßnahme wurde am 15.9.2009 vorzeitig beendet, weil der Geschädigte nicht "werkstattfähig" war.
Die Kl. hat die Verurteilung des Bekl. zum Ersatz entgangener Rentenversicherungsbeiträge von 5.934,48 EUR verfolgt. Hierzu hat sie behauptet, der Geschädigte hätte im Jahre 2010 aus einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung ein Einkommen von 29.821,50 EUR erzielt. Unter Zugrundelegung der hieraus abzuführenden Rentenversicherungsbeiträge von 19,9 % ergebe sich der mit der Klage geforderte Betrag. Weiterhin hat die Kl. den Ausspruch der Feststellung begehrt, dass der Bekl. verpflichtet ist, ihr für die Zeit bis zum 31.12.2056 "im Rahmen der Übergangsfähigkeit nach § 116 SGB X" die künftig an den Geschädigten zu erbringenden schadensbedingten Aufwendungen und gem. § 119 SGB X die weiteren unfallbedingten Aufwendungen sowie die weiteren unfallbedingten Beitragsausfälle zu ersetzen. Das LG hat der Klage stattgegeben; auf die Berufung der Bekl. hat das OLG den zugesprochenen Betrag auf 5.340,89 EUR herabgesetzt und die Feststellung auf den Zeitraum bis zum 31.12.2054 begrenzt sowie die weitergehende Berufung zurückgewiesen.
Mit der gelassenen Revision verfolgt der Bekl. seinen Antrag auf vollständige Zurückweisung der Klage weiter.
Die Revision hatte keinen Erfolg.
2 Aus den Gründen:
[7] "… Das angefochtene Urteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung stand."
[8] Mit Recht hat das BG angenommen, dass die Kl. gegen den Bekl. aus übergegangenem Recht des Geschädigten nach § 119 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 Fall 2 SGB X in der seit dem 1.1.2001 geltenden Fassung einen Anspruch auf Ersatz ausgefallener Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung des Geschädigten für das Jahr 2010 (Zahlungsantrag) und die Folgejahre (Feststellungsantrag) hat.
[9] 1. a) Nach st. Rspr. des erkennenden Senats gehören Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zum Arbeitseinkommen des pflichtversicherten Arbeitnehmers. Verliert ein solcher Arbeitnehmer aufgrund einer verletzungsbedingten Arbeitsunfähigkeit seine Beschäftigung und entfällt deshalb die Beitragspflicht, muss der eintrittspflichtige Schädiger gem. den §§ 842, 843 BGB die Nachteile ersetzen, die dem Geschädigten durch diese Störung seines Versicherungsverhältnisses entstehen. Ist eine verletzungsbedingte Verkürzung späterer Versicherungsleistungen zumindest möglich, muss der Schädiger grds. schon bei Entstehung der Beitragslücken dafür sorgen, dass die soziale Vorsorge fortgesetzt wird und eine Verkürzung nicht eintritt. Zu diesem Zweck muss er, sofern das Rentenversicherungsrecht einen Weg zur Fortentrichtung von Beiträgen eröffnet, die ausfallenden Beiträge ersetzen (vgl. Senatsurt. v. 18.10.1977 – VI ZR 21/76, BGHZ 69, 347, 348 ff.; v. 15.4.1986 – VI ZR 146/85, BGHZ 97, 330, 331 f.; v. 10.12.1991 – VI ZR 29/91, BGHZ 116, 260, 263; v. 10.7.2007 – VI ZR 192/06, BGHZ 173, 169 Rn 12; v. 18.12.2007 – VI ZR 278/06, VersR 2008, 513 Rn 8 m.w.N.). Hingegen kann er den Geschädigten nicht darauf verweisen, diesem bei Erreichen des Rentenalters selbst eine Altersversorgung zu gewähren. Denn ein derartiger schuldrechtlicher Anspruch wäre einer Rentenanwartschaft in der Sozialversicherung wirtschaftlich nicht gleichwertig (vgl. Senatsurt. v. 10.4.1954 – VI ZR 61/53, VersR 1954, 277, 278; v. 17.1.1967 – VI ZR 91/65, BGHZ 46, 332, 334 f.; v. 19.10.1993 – VI ZR 56/93, VersR 1994, 186, 187). Diese Pflicht des Schädigers zur Erstattung von Rentenversicherungsbeiträgen besteht nicht nur, wenn der Geschädigte zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses bereits Mitglied der Sozialversicherung war, so...