1. Ansätze der europäischen Verkehrspolitik
Im Weißbuch Verkehr aus 2001 nennt die EU-Kommission die Halbierung der Zahl der Verkehrstoten bis 2010 als Ziel. Das 2003 verabschiedete Europäische Aktionsprogramm für die Straßenverkehrssicherheit bekräftigt dieses Ziel. Neben Maßnahmen zur Verbesserung der Straßeninfrastruktur und Erhöhung der Fahrzeugsicherheit sollen auch die Verkehrsteilnehmer durch verschiedene Maßnahmen zu einem besseren Verkehrsverhalten angehalten werden. Alljährlich werden rund 1,3 Mio. Unfälle im europäischen Straßenverkehr sowie mehr als 40.000 getötete und 1,7 Mio. verletzte Teilnehmer im Straßenverkehr verzeichnet. Dabei sehen sich alle EU-Mitgliedstaaten denselben Problemen gegenüber: Zu den Hauptunfallursachen zählen insbesondere Alkohol- und Drogenkonsum, wobei das Problem des Fahrens unter Drogeneinfluss zunimmt.
2. Das Kapper-Urteil des EuGH und seine Folgen
Ausgangspunkt der EuGH-Rechtsprechung zum Führerscheintourismus ist die sog. Kapper-Entscheidung vom 29.4.2004. Das Urteil enthielt die auf den ersten Blick unspektakuläre Aussage, dass jeder Mitgliedstaat grundsätzlich verpflichtet ist, die in einem anderen EU-Staat ausgestellten Führerscheine ohne weitere Prüfung anzuerkennen. Auf etwaige Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit derartiger Verwaltungsakte, z.B. wegen Umgehung des Wohnsitzerfordernisses oder der Täuschung über verkehrsrechtliche Vorbelastungen, auf Missbräuche also, müsste gegebenenfalls der Ausstellungsstaat reagieren. Daneben entschied der Gerichtshof, dass in Fällen, in denen deutsche Behörden oder Gerichte positive Kenntnis von Unregelmäßigkeiten bei der Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis im Ausland hätten, sie die Anerkennung der Gültigkeit nicht versagen dürften. Im Wege des grenzübergreifenden Informationsaustausches sollten sie vielmehr mit der ausländischen Straßenverkehrsbehörde Kontakt aufnehmen und auf eine Überprüfung hinwirken, erforderlichenfalls über den Weg eines Vertragsverletzungsverfahrens.
Das Kapper-Urteil führte zu einer Wanderungsbewegung von Verkehrsteilnehmern, die in Deutschland wegen einschlägiger Vorbelastungen relativ geringe oder gar keine Chancen besaßen, die strengen Anforderungen, insbesondere an die charakterliche Eignung – im Volksmund als Idiotentest bekannt – zu erfüllen. Innerhalb kurzer Zeit hatte sich mit sog. Führerscheinvermittlern ein neuer Berufsstand etabliert, der über Werbung im Internet und in der Presse mit dem risikolosen Erwerb von "EU-Führerscheinen ohne MPU" wirbt und damit Fahrlehrern als auch MPU-Begutachtungsstellen Konkurrenz macht. Im Jahr 2007 wurden allein 3.213 Fahrerlaubnisinhaber, die ihre Fahrerlaubnis unter Verstoß gegen das Wohnsitzprinzip erwarben, durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) an ausländische Behörden gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen als die im vergangenen Jahr im Rahmen von Verkehrskontrollen aufgedeckten Fälle. Durch diese Entwicklung hat die Rechtssicherheit im Bereich des Fahrerlaubnisrechts einigen Schaden genommen. Die Probleme bei der gegenseitigen Anerkennung von EU-Führer-scheinen treten in immer neuen Abwandlungen und vielfältigen Fallkonstellationen auf. Die Straßenverkehrs- und Polizeibehörden sind in der Behandlung dieser Fälle verunsichert. Die unterschiedliche Einordnung der bislang ergangenen Entscheidungen des EuGH hat des Weiteren zu einer unterschiedlichen Rechtsprechung innerhalb der Obergerichte in Deutschland geführt. Auch die Politik nimmt den Führerscheintourismus als drängendes Rechtsproblem und Risiko für die Straßenverkehrssicherheit wahr.