RVG § 17 Nr. 10; VV RVG Nr. 4141
Leitsatz
Wird nach Einstellung des Strafverfahrens das Verfahren zur Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit an die Verwaltungsbehörde abgegeben, fällt dem Verteidiger für die Mitwirkung an der Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens eine zusätzliche Verfahrensgebühr nach Nr. 4141 VV RVG an.
(Leitsatz der Schriftleitung)
AG Lemgo, Urt. v. 8.10. 2008 – 20 C 283/08
Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft hatte infolge der Tätigkeit des Verteidigers des Klägers das Ermittlungsverfahren endgültig eingestellt. Wegen einer ggf. in Betracht kommenden Ordnungswidrigkeit hat sie dann das Verfahren an die Verwaltungsbehörde abgegeben. Das von dieser Behörde verhängte Bußgeld hat der Kläger akzeptiert. Der Kläger hat von seiner Rechtsschutzversicherung auch die Zahlung der zusätzlichen Verfahrensgebühr nach Nr. 4141 VV RVG verlangt. Die Rechtsschutzversicherung hat die Zahlung verweigert. Die Freistellungsklage des Klägers hatte Erfolg.
Aus den Gründen
“ … Der Kläger kann von der Beklagten die Freistellung von einer Verbindlichkeit in Form von Rechtsanwaltskosten in geltend gemachter Höhe beanspruchen. Ein Anspruch folgt aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Rechtsschutzversicherungsvertrag.
Dem Kläger steht auch ein Anspruch auf Freistellung der – der Höhe nach unstreitigen – Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG zu. Nach Gebührenziffer Nr. 4141 Abs. 1 Nr. 1 VV RVG entsteht eine zusätzliche Gebühr in Höhe der jeweiligen Verfahrensgebühr, wenn durch die anwaltliche Mitwirkung die Hauptverhandlung entbehrlich wird und das Verfahren nicht nur vorläufig eingestellt wird.
Die Parteien streiten nunmehr darüber, ob das "Verfahren" nicht nur vorläufig eingestellt worden ist. Wie der Begriff des "Verfahrens" i.S.v. Nr. 4141 Abs, 1 Nr. 1 VV RVG auszulegen ist, ist in der Rspr. umstritten.""
Während ein Teil der Rspr. den Begriff "Verfahren" dahin auslegt, dass damit das Ermittlungsverfahren in seiner Gesamtheit, bestehend aus Strafverfahren und Ordnungswidrigkeitsverfahren gemeint ist, geht ein anderer Teil der Rspr. von einer Trennung zwischen dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, das vorliegend endgültig eingestellt worden ist, und dem sich daran anschließenden Bußgeldverfahren aus.
Der letzteren Auffassung gebührt der Vorrang. Dass der Begriff "Verfahren" nur das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren meint, ergibt sich bereits aus der Stellung des Begriffs im gesamten Zusammenhang. Die Gebührenziffer Nr. 4141 VV RVG steht in Teil 4 des Vergütungsverzeichnisses, der als "Strafsachen" tituliert ist. In der Überschrift zur Nr. 4141 VV RVG wird ein Bezug zur Hauptverhandlung i.S.v. § 230 StPO hergestellt; es folgt in Abs. 1 Nr. 1 die Bezugnahme auf ein "Verfahren", das nicht nur "vorläufig eingestellt" werden darf, sowie in Nr. 2 auf ein "Hauptverfahren", das das Gericht nicht eröffnet. In Nr. 3 geht es um die Rücknahme von Rechtsmitteln, des Einspruchs gegen Strafbefehl, der Berufung und Revision. Die in Nr. 4141 VV RVG mit einer Zusatzgebühr bedachten Situationen stehen begriffsnotwendig im Zusammenhang mit dem Strafverfahren; in Nr. 4141 Abs. 1 Nr. 1 VV RVG kann daher nur das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gemeint sein.
Auch nach Sinn und Zweck ist diese Auslegung geboten, weil der Gesetzgeber einen Anreiz dafür schaffen wollte, die Hauptverhandlung entbehrlich zu machen.
Schließlich hat der Gesetzgeber durch die Regelung in § 17 Nr. 2 RVG klargestellt, dass das strafrechtliche Ermittlungsverfahren und ein nach dessen Einstellung sich anschließendes Bußgeldverfahren zwei verschiedene gebührenrechtliche Angelegenheiten darstellen.
Weil die Prozessbevollmächtigten des Klägers durch ihr Verhaften im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eine Hauptverhandlung entbehrlich gemacht haben und das Strafverfahren endgültig eingestellt worden ist, haben sie eine Zusatzgebühr nach Nr. 4141 VV RVG verdient.“
3 Anmerkung
Den beiden vorstehenden Entscheidungen ist zuzustimmen. Das AG hat sich mit überzeugender Begründung der h.M. angeschlossen, so etwa AG Regensburg AGS 2006, 125 = StraFo 2006, 88 = RVGreport 2007, 225; AG Köln AGS 2006, 234 = JurBüro 2007, 83 = zfs 2006, 646; AG Gelnhausen AGS 2007, 453; AG Hannover AGS 2006, 235; AG Saarbrücken AGS 2007, 306; AG Nettetal AGS 2007, 404; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, RVG, 18. Aufl., § 17 Rn 57; Burhoff, RVG in Straf- und Bußgeldsachen, "Angelegenheiten (§§ 15 ff.)" Rn 14; ders. RVGreport 2007, 161; Madert, AGS 2006, 105. Das LG Osnabrück hat sich zutreffend auf die Gesetzesmaterialien berufen.
Die Rechtsschutzversicherungen beziehen sich häufig auf die gegenteilige Mindermeinung, so etwa AG München RVGprofessionell 2006, 203 = JurBüro 2007, 84 und im Urt. v. 28.9. 2007, 141 C 18336/07 sowie AG Osnabrück RVGprofessionell 2008, 52. Diese oft nicht begründete Gegenauffassung überzeugt nicht. Sie wird – worauf Burhoff, RVGreport 2007, 161, 162 völlig zu Recht hinweist – ad absurdum geführt, wenn nach Abgabe an die Verwaltungsbehörde auf Grund der Tätigkeit des Verteidigers auch das Bußgel...