EGVVG Art. 1 Abs. 3; VVG § 28 Abs. 2 S. 2 § 81 Abs. 2
Leitsatz
1. Die Sanktionsregelung bei Verletzung vertraglich vereinbarter Obliegenheiten (hier: § 11 Nr. 2 S. 1 bis S. 3 VGB 88) ist unwirksam, wenn der VR von der Möglichkeit der Vertragsanpassung gem. Art. 1 Abs. 3 EGVVG keinen Gebrauch gemacht hat. Der VR kann deshalb bei grob fahrlässiger Verletzung vertraglicher Obliegenheiten kein Leistungskürzungsrecht gem. § 28 Abs. 2 S. 2 VVG geltend machen.
2. Auf die Verletzung gesetzlicher Obliegenheiten (hier: grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalles gem. § 81 Abs. 2 VVG) kann sich der VR weiterhin berufen.
BGH, Urt. v. 12.10.2011 – IV ZR 199/10
Sachverhalt
Der Kl. ist Zwangsverwalter eines Miteigentumsanteils an einem Grundstück verbunden mit dem Sondereigentum an einem Haus. Er trat im März 2007 in einen bei der Bekl. bestehenden Versicherungsvertrag über eine Wohngebäudeversicherung ein und verlangt Versicherungsleistungen für einen Leitungswasserschaden vom Januar 2009.
Die Bekl. nahm keine Anpassung der VGB 88 an die Vorschriften des VVG i.d.F. des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts v. 23.11.2007 vor.
Das versicherte Haus stand leer und wurde zur Vermietung vorgehalten. Eine Entleerung der wasserführenden Leitungen fand nicht statt. Am 8.1.2009 wurde ein Leitungswasserschaden festgestellt.
Die Bekl. berief sich vorgerichtlich auf eine Verletzung der Obliegenheit zur regelmäßigen Kontrolle des Gebäudes und zur Entleerung aller wasserführenden Anlagen. Unter Berücksichtigung der Schwere des Verschuldens des VN sagte sie eine hälftige Zahlung der Schadenbeseitigungsaufwendungen zu, die während des anhängigen Berufungsverfahrens erfolgte.
2 Aus den Gründen:
[15] “II. … Zutreffend hat das BG ein Leistungskürzungsrecht der Bekl. sowohl wegen Verletzung einer vertraglichen Obliegenheit als auch aufgrund einer Gefahrerhöhung verneint. Dagegen hat es die Anforderungen an den Sachvortrag der Bekl. zur grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalles gem. § 81 VVG überspannt. …
[17] 2. Die Bestimmungen des § 11 Nr. 2 S. 1 bis S. 3 VGB 88 sind unwirksam.
[18] a) Da der Versicherungsfall im Jahr 2009 eingetreten ist, findet gem. Art. 1 Abs. 1 EGVVG das VVG in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 23.11.2007 (BGBl I 2631) Anwendung. § 28 Abs. 2 S. 2 VVG bestimmt, dass der VR im Fall einer grob fahrlässigen Verletzung einer Obliegenheit nur berechtigt ist, seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des VN entsprechenden Verhältnis zu kürzen. Von dieser Regelung weicht das Sanktionensystem in § 11 Nr. 2 S. 1 bis S. 3 VGB 88 entgegen § 32 S. 1 VVG zum Nachteil des VN ab. Denn § 11 Nr. 2 S. 1 bis S. 3 VGB 88 nimmt Bezug auf die Kündigung und die Leistungsfreiheit in § 6 VVG a.F., wonach eine grob fahrlässig begangene Obliegenheitsverletzung bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen der Vorschrift die volle Leistungsfreiheit zur Folge hat.
[19] b) Dies führt zur Unwirksamkeit der Regelung gem. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB. Die Abweichung von der halbzwingenden Vorschrift des § 28 Abs. 2 S. 2 VVG zum Nachteil des VN stellt eine unangemessene Benachteiligung dar … , da die Leistungsfreiheit des VR bei lediglich grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung mit wesentlichen Grundgedanken des § 28 Abs. 2 S. 2 VVG nicht zu vereinbaren ist.
[20] 3. Die Vertragslücke, die durch die Unwirksamkeit der Regelung über die Folgen einer Obliegenheitsverletzung entstanden ist, kann nicht geschlossen werden.
[21] Allerdings ist in Rspr. und Schrifttum umstritten, ob sich der VR bei grob fahrlässiger Verletzung einer Obliegenheit durch den VN auf ein quotales Leistungskürzungsrecht berufen kann, wenn in einem Altvertrag i.S.d. Art. 1 Abs. 1 S. 1 EGVVG die dortigen Bestimmungen über die Rechtsfolgen der Verletzung vertraglich vereinbarter Obliegenheiten durch Inkrafttreten und Anwendbarkeit des VVG 2008 unwirksam geworden sind, weil der VR auf eine Anpassung seiner Versicherungsbedingungen nach Art. 1 Abs. 3 EGVVG verzichtet hat. Hiernach konnte der VR bis zum 1.1.2009 seine AVB für Altverträge mit Wirkung zum 1.1.2009 ändern, soweit sie von den Vorschriften des VVG abwichen und er dem VN die geänderten Versicherungsbedingungen unter Kenntlichmachung der Unterschiede spätestens einen Monat vor diesem Zeitpunkt in Textform mitteilte.
[22] a) Zum Teil wird vertreten, dass die vereinbarte Obliegenheit im Sinne einer Verhaltensnorm weiterhin wirksam bleibt und die gesetzliche Bestimmung des § 28 Abs. 2 S. 2 VVG gem. § 306 Abs. 2 BGB an die Stelle der unwirksamen vertraglichen Sanktionsregelung tritt.
[23] aa) Dabei wird das Weiterbestehen der Obliegenheit trotz Unwirksamkeit der hierzu in den AVB getroffenen Sanktionsregelung unterschiedlich begründet:
[24] (1) Teilweise wird angenommen, dass es sich bei der Verhaltensnorm und der Sanktionsregelung um inhaltlich trennbare Regelungen handele, wobei die Verhaltensnorm aus sich heraus verständlich sei. Deshalb sei eine derartige Klausel in AVB nicht insgesamt, sondern nur teilweis...