Auch wenn standardisierte Messverfahren die Anforderungen an Sachverhaltsaufklärung und Urteilsbegründung vereinfachen, hat sich der Begriff als wichtiges Einfallstor für eine effektive Verteidigung erwiesen. Von einem standardisierten Verfahren kann nach feststehender und m.E. zutreffender obergerichtlicher Rechtsprechung nur dann die Rede sein, wenn das Messgerät von seinem Bedienungspersonal auch wirklich standardmäßig verwendet wird, d.h. in geeichtem Zustand gemäß der Betriebsanleitung des Geräteherstellers und den Zulassungsbedingungen der PTB. Dies betrifft nicht nur den eigentlichen Messvorgang, sondern auch vorausgehende und ggf. nachfolgende Gerätetests sowie Schulungen des Messpersonals. Die Bedienungsanleitung ist Bestandteil der Bauartzulassung. Auch der Eichschein fordert im Allgemeinen ausdrücklich, dass das Messgerät gemäß der gültigen Gebrauchsanweisung gehandhabt wird. Kommt es im konkreten Einzelfall zu Abweichungen von der Gebrauchsanweisung, so handelt es sich daher nicht mehr um ein standardisiertes Messverfahren. Das Gerät ist dann wie ein nicht geeichtes anzusehen, weil das im Eichschein verbriefte Prüfergebnis bezüglich der Einhaltung der Verkehrsfehlergrenzen keine Gültigkeit besitzt. Allerdings halte ich es nicht für richtig, wenn Amtsgerichte Betroffene in einer solchen Verfahrenslage ohne weiteres freisprechen; die Begründung, Bußgeldverfahren wegen Verkehrsverstößen seien Massenverfahren und besonders auf Beschleunigung angelegt, so dass individuelle Messverfahren nicht zuzulassen, die Messergebnisse vielmehr unverwertbar seien, trägt nicht. Die Aufklärungspflicht gilt auch hier. Liegt kein standardisiertes Messverfahren vor, so hat das Gericht die Korrektheit des Messergebnisses und dessen Zuordnung zum Fahrzeug des Betroffenen individuell zu überprüfen und im Urteil darzulegen, in aller Regel nach Anhörung eines Sachverständigen für Messtechnik und ggf. unter Zubilligung höherer Toleranzwerte.
Nun ist es an der Zeit, einen Blick auf in der Praxis aufgetretene Abweichungen vom regelgerechten Ablauf der Messverfahren zu werfen. Ich habe einen bunten Strauß von Unregelmäßigkeiten oder Auffälligkeiten aus Rechtsprechung und Literatur zusammengetragen – ohne jeden Anspruch auf Systematisierung und Vollständigkeit. Mir kommt es auch nicht darauf an, ob technische Verbesserungen oder sonstige Änderungen bestimmte Probleme behoben haben; ich möchte schlicht das ganze breite Spektrum aufzeigen, auf das sich das Interesse der Verteidigung je nach Lage des konkreten Falles richten könnte:
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Messung entgegen den Richtlinien für die Verkehrsüberwachung in zu geringem Abstand zum Beginn oder Ende einer Geschwindigkeitsbegrenzung; |
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Eingriffe in Messgerät, Zubehör oder Videofahrzeug nach der letzten Eichung; |
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Ablauf der Gültigkeitsdauer der Eichung; |
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Ausstellung des Eichscheins vor Bauartzulassung durch die PTB; |
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Eichung unter Zugrundelegung einer zum Messzeitpunkt überholten Bedienungsanleitung; |
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Eichung materiell fehlerhaft wegen nicht vorhandener Bauartzulassung in Bezug auf einen zwischengeschalteten sog. CAN-Bus; |
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fehlende Zulassung einer verwendeten Kamera durch die PTB; |
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Messung in einem nicht zugelassenen Entfernungsbereich zwischen Fahrzeug und Messgerät; |
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Messwinkelabweichungen bei Radarmessgeräten; |
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keine Übertragung der Fahrbahnneigung auf Lichtempfänger bzw. Sensorkopf bei Lichtschranken und Einseitensensoren; |
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Durchführung der Funktionstests unter Abweichung von der Bedienungsanleitung (Visiertest, Null-Messung usw.); |
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konkrete Messung durch ein nicht ausreichend geschultes Mitglied des Messtrupps; |
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ungewöhnlich hohe Annulationsrate; |
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Reflexionen durch andere Objekte wie großflächige Betonwände oder Gebäudemauern beim Einsatz von Radargeräten; |
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Schräglage des nachfahrenden ProViDa-Motorrads; |
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Veränderung der Position des Messgeräts infolge zu weicher Fahrbahnbankette; |
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hohe Verkehrsdichte und schlechte Sichtverhältnisse bei Lasermessgeräten ohne fotografische Dokumentation; |
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Auslösung der Messung durch einen Schatten oder einen sonstigen Kontrast; |
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konkrete Störung des Messvorgangs durch Fremdfahrzeuge; |
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Fehldokumentation unter Verwechslung von Foto- und Messlinie bei ES 3.0; |
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Fehlen einer korrekt gekennzeichneten und dokumentierten Fotolinie; |
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Fotolinie ist nicht über die volle Breite im Messfoto abgebildet; |
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unplausible Positionierung des Fahrzeugs des Betroffenen in Bezug auf die Fotolinie; |
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auf dem gesamten Messfilm stark abweichende Positionen einiger der aufgenommenen weiteren Fahrzeuge zur Fotolinie; |
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im Messfeldrahmen von LEIVTEC XV2 und 3 ist ein weiteres ankommendes Fahrzeug auf allen Bildern bzw. dem Start- und Endbild größer als 1/3 des Rahmens abgebildet; |
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gemessenes Fahrzeug hat nach erfolgter Geschwindigkeitsmesswertbildung mit PoliScan speed gebremst, beschleunigt oder einen Fahrstreifenwechsel eingeleitet mit der Gefahr einer falschen Positionierung des Auswerterahmens; |