Dem Beitrag liegt ein geringfügig erweiterter Vortrag bei den Homburger Tagen 2012 zugrunde. Die Vortragsform wurde im Wesentlichen beibehalten.
Einführung
Für die Gelegenheit, anlässlich der diesjährigen Homburger Tage zu Ihnen zu sprechen, danke ich der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht im Deutschen Anwaltverein. Als Mitglied des für Verkehrsstrafsachen zuständigen 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs Ihrem Arbeitsgebiet eng verbunden, habe ich mich über Ihre erneute Anfrage, lieber Herr Gebhardt, sehr gefreut. In diesem Jahr werde ich prozessuale Anforderungen an den Nachweis von Verkehrsverstößen behandeln – ein Schwerpunkt soll dabei die in jüngerer Zeit sehr streitig gewordene Frage der Einsicht in Messunterlagen im Bußgeldverfahren sein. Um uns im Dickicht divergierender Rechtsprechung sicheren Grund zu verschaffen, ist es erforderlich, dass wir uns zunächst an zwei Beschlüsse meines Senats aus den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erinnern, die sowohl die Amtsaufklärungspflicht des Bußgeldrichters als auch die Anforderungen an die Darlegung von Verkehrsverstößen im Urteil erheblich eingegrenzt haben: Die beiden Entscheidungen verliehen dem Begriff des "standardisierten Messverfahrens" Kontur und verfahrensrechtliche Konsequenz, ein Begriff, der für bestimmte Geschwindigkeitsmessungen geprägt wurde, inzwischen aber im Verkehrsrecht auch im Zusammenhang mit Abstands- und Rotlichtverstößen sowie für die Atemalkoholmessung Bedeutung erlangt hat. Zugleich präzisierte der 4. Strafsenat aus der Sicht der Rechtsbeschwerde die Trennlinie zwischen Sach- und Verfahrensrüge. Im Anschluss an die Darstellung dieser höchstrichterlichen Weichenstellung werde ich einen kurzen Blick auf Probleme werfen, die in der Praxis technischer Messungen auftreten. Danach werde ich zur Rechtsgrundlage für das Einsichtsrecht des Verteidigers in die Messunterlagen Stellung nehmen. Abschließend werde ich die Rechtsprechung zur Einsicht in die verschiedenen Messunterlagen analysieren.
I.
Definiert wurde der Begriff des standardisierten Messverfahrens erst in dem später ergangenen Beschluss vom 30.10.1997: Damit sei nicht etwa gemeint, dass die Messung in einem voll automatisierten, menschliche Handhabungsfehler praktisch ausschließenden Verfahren stattfinden müsse. Vielmehr sei hierunter ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren zu verstehen, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt seien, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten seien. Technische Messsysteme, deren Bauart von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zur innerstaatlichen Eichung zugelassen ist, werden daher grundsätzlich als standardisierte Messverfahren anerkannt. Dafür spricht auch § 36 Abs. 1 EichO: Denn nur wenn die umfangreichen Prüfungen der PTB ergeben, dass das Messgerät Gewähr dafür bietet, dass es während der Gültigkeitsdauer der Eichung im Rahmen der zulässigen Fehlertoleranzen auf der Grundlage der in der Gebrauchsanweisung festgelegten Vorgehensweise ausnahmslos richtige Messergebnisse liefert, wird die Bauartzulassung erteilt. Unter Hinweis hierauf haben die Oberlandesgerichte Düsseldorf und Frankfurt sowie das Kammergericht etwa auch die Geschwindigkeitsmessung mit dem "PoliScan speed"-Verfahren – also ein auf der Basis einer Laserpuls-Laufzeitmessung arbeitendes Messverfahren – als ein standardisiertes Messverfahren anerkannt. Andere Oberlandesgerichte haben eine solche Anerkennung offen gelassen und insbesondere auf die gegen die Nachprüfbarkeit und Zuverlässigkeit der Messung vorgebrachten Einwände hingewiesen. Die Anerkennung als standardisiertes Messverfahren kann sich freilich auf einzelne Verstöße beschränken – so ist etwa das ProViDa-System standardisiert für Geschwindigkeits-, nicht aber für Abstandsmessungen, während die Videobrückenmessverfahren VAMA, ViBrAM-BAMAS sowie VKS Select sowohl für Abstands- als auch für Geschwindigkeitsverstöße standardisierte Messverfahren sind.
Den Begriff des standardisierten Messverfahrens hat der Senat überzogenen Anforderungen in der obergerichtlichen Rechtsprechung an die Feststellung eines Geschwindigkeitsverstoßes entgegengesetzt. Bereits im Beschluss vom 19.8.1993 wird betont, dass die amtliche Zulassung von Geräten und Methoden ebenso wie die Reduzierung des gemessenen Wertes um einen – die systemimmanenten Messfehler erfassenden – Toleranzwert gerade den Zweck verfolgen, Ermittlu...