Macht ein VN nach einem Unfall einen Anspruch auf eine Invaliditätsentschädigung geltend, ist in der forensischen Praxis häufig entscheidend, ob eine (von den AVB regelmäßig zwischen 15 und 24 Monaten terminierte) fristgemäße ärztliche Feststellung der Invalidität erfolgt ist. Ihr Vorliegen ist Anspruchsvoraussetzung.

Versucht man – aus anwaltlicher Perspektive – ein Prüfungsprogramm zu entwerfen, so müsste es beachten:

(1) Die innerhalb der jeweiligen Frist gebotene Feststellung von Invalidität muss formal

durch einen "Arzt" (und nicht beispielsweise durch einen Heilpraktiker oder einen psychologischen Psychotherapeuten) erfolgt sein – ob der Arzt einschlägig fachkundig ist, ist unerheblich, weil von den AVB nicht vorgegeben;
Invalidität (also eine dauerhafte Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit) feststellen, muss aber weder richtig sein noch einen Invaliditätsgrad angeben, jedoch das Bestehen und nicht nur die künftige Möglichkeit von Invalidität bestätigen;
keinen bestimmten Formen (Schriftform, Textform) genügen, wohl aber in einer Weise "fixiert" sein, die eine Dokumenten- oder Dateienvorlage und nicht nur das Angebot, den Arzt zu vernehmen, erlaubt.

(2) Sie muss materiell

eine dauerhafte Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit feststellen,
sie nicht nur pauschal, sondern wenigstens im Ansatz durch Angabe bestimmter funktioneller (dauerhafter) Beeinträchtigungen veranschaulichen und
ihren Eintritt auf den Unfall zurückführen.

(3) Über die Notwendigkeit, diese Feststellung zu veranlassen muss der VR – bei Abgabe der Schadensanzeige – belehren. Unterlässt er die Belehrung, darf er sich auf die Fristversäumung nicht berufen. Ob ungeachtet dessen eine gleichwohl erhobene Klage auf Zahlung einer Invaliditätsentschädigung (ohne Vorlage einer nachgeholten ärztlichen Feststellung) schlüssig ist, oder ob in einem solchen Fall im Rechtsstreit noch ein ärztliches Gutachten eingeholt werden darf, ist streitig (OLG Saarbrücken zfs 2014, 219).

(4) In manchen Fällen ist die Berufung des VR auf das Fehlen einer fristgemäßen ärztlichen Feststellung von Invalidität treuwidrig:

wenn Art und Maß der Erkrankung von vornherein jeglichen Zweifel am Bestehen von Invalidität ausschließt (beispielsweise in Fällen einer Querschnittslähmung),
wenn der VR vor Ablauf der Feststellungsfrist Maßnahmen ergreift, die den VN veranlassen konnten, von einer eigenen Sicherung der Invaliditätsdokumentation abzusehen (der VR hat vor Ablauf der Frist ein Gutachten in Auftrag gegeben, der VR hat den VN nach Vorlage von ärztlichen Bescheinigungen nicht auf die Notwendigkeit einer ärztlichen Feststellung hingewiesen, obwohl sich ihm aufdrängen musste, dass der VN alles Erforderliche für geleistet erachtet hat).

Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Entscheidung des OLG Zweibrücken, sind Zweifel angezeigt: Ein Arzt hatte (wenn auch vergleichsweise schlicht) Invalidität bejaht: Er hatte bestimmte funktionelle Beeinträchtigungen angegeben. Es war unschwer nachvollziehbar, dass sie ausschließlich auf den Unfall zurückzuführen waren. Dass künftige Heilungschancen bestanden haben mochten, ist demgegenüber unerheblich: Sie sind, solange im Verlauf der ersten drei Jahre nach einem Unfall Invalidität bejaht werden muss, unerheblich und können allenfalls eine Nachbemessungsoption auslösen. Es wäre geradezu widersinnig anzunehmen, innerhalb der ersten drei Jahre nach einem Unfall seien dauerhafte Funktionsbeeinträchtigungen anzunehmen, von Invalidität könne trotzdem nicht ausgegangen werden, weil spätere Heilungschancen nicht auszuschließen seien oder auch nur der weitere Verlauf der Dinge unklar sei.

Prof. Dr. Roland Rixecker, Präsident des OLG Saarbücken

zfs 12/2014, S. 704 - 708

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