Nach der bereits erwähnten Statistik des ACE waren von den im Jahr 2010 im Straßenverkehr zu Schaden gekommenen Fußgängern 58,8 % schuldlos in Unfälle verwickelt. Bei immerhin 41,2 % wurde jedoch das Verhalten der Fußgänger als unfallursächlich angesehen. Das wirft die Frage auf, wie sich Fußgänger selbst besser vor Unfällen schützen können. Sind Fußgänger etwa zu leichtsinnig oder aber zu oft unaufmerksam? Welche Sorgfalt kann überhaupt von ihnen verlangt werden?
I. Allgemeine Sorgfalt
Fußgänger verunglücken nicht nur im Straßenverkehr. Es gibt Entscheidungen von Oberlandesgerichten, nämlich vom OLG Köln und vom OLG Düsseldorf, in denen es heißt, es existiere ein Erfahrungssatz, dass derjenige, der etwa beim Herabsteigen auf einer normalen Treppe, die keine Besonderheiten aufweist, stolpert und hinfällt, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet habe, weil er entweder seinen Schritten nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt oder sich bei einem Stolpern nicht hinreichend am Treppengeländer festgehalten habe. Wenn ein Fußgänger ohne erkennbaren Grund stolpert, soll dies nach Auffassung des Landgerichts Mühlhausen darauf schließen lassen, dass er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Kommt ein Dritter dadurch zu Fall, soll der Fußgänger schadensersatzpflichtig sein. Ich halte diese Ansicht für zweifelhaft. Wenn ein Fußgänger stolpert oder mit dem Fuß umknickt, ist das nach meinem Dafürhalten zunächst nur ein Missgeschick. Dieses dürfte nicht in jedem Fall auf eine Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt schließen lassen. M.E. kann man von Fußgängern jedenfalls außerhalb des Straßenverkehrs nicht stets dieselbe hohe Aufmerksamkeit fordern, wie sie von einem Kraftfahrer wegen der spezifischen Gefahr, die von Kraftfahrzeugen ausgeht, mit Recht verlangt wird. Bei der Teilnahme am Straßenverkehr mag das anders sein. Hier wird man nach der konkreten Verkehrssituation differenzieren müssen. So könnte es einen Unterschied machen, ob jemand einen gemütlichen Sonntagsspaziergang im Park unternimmt oder ob er in der Vorweihnachtszeit in einer belebten Einkaufsstraße der Innenstadt unterwegs ist. Eine erhöhte Aufmerksamkeit – zum eigenen Schutz, aber auch zum Schutz anderer Verkehrsteilnehmer – dürfte auch beim Überqueren von stark befahrenen Straßen und in anderen gefahrträchtigen Situationen geboten sein. Die im Verkehr erforderliche Sorgfalt richtet sich also nach den konkreten Umständen.
II. Exkurs: Alkohol im Straßenverkehr
Dass sich die Maßstäbe für die Beurteilung des Verhaltens von Verkehrsteilnehmern im Laufe der Zeit ändern können, ist bekannt. Mitunter wird aber auch bei verschiedenen Verkehrsteilnehmern – z.B. bei Kraftfahrzeugführern einerseits und nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern andererseits – mit zweierlei Maß gemessen. Ein schönes Beispiel dafür liefert ein kürzlich veröffentlichtes Urteil des Oberlandesgerichts Oldenburg. Das OLG Oldenburg hatte zu entscheiden, ob der zu § 316 StGB für Kraftfahrer entwickelte Grenzwert für die Annahme absoluter Fahruntüchtigkeit auch für den Kutscher einer Pferdekutsche gilt. Ich möchte auf den Fall kurz eingehen, obwohl der Begriff der absoluten Fahruntüchtigkeit haftungsrechtlich keine Rolle spielt, denn es handelt sich dabei ja um eine lediglich abstrakte Gefahrerhöhung. Diese kann im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge nur von Bedeutung sein, wenn sie sich bei dem Unfall tatsächlich ausgewirkt hat. Die Entwicklung der Rechtsprechung zur absoluten Fahruntüchtigkeit macht aber deutlich, dass für das Verhalten im Straßenverkehr durchaus unterschiedliche Maßstäbe gelten können. Ferner wird deutlich, wie sich die Beurteilung derselben Verhaltensweise im Laufe der Zeit sowohl aufgrund neuer Erkenntnisse als auch im Hinblick auf das immer weiter steigende Verkehrsaufkommen ändern kann.
Für Kraftfahrer liegt der Grenzwert, von dem an absolute Fahruntüchtigkeit anzunehmen ist, heute bekanntlich bei 1,1 ‰. Das war nicht immer so. Im Jahr 1953 hatte der Bundesgerichtshof die Grenze für die Annahme absoluter Fahruntüchtigkeit zunächst bei 1,5 ‰ angesetzt. Dreizehn Jahre später, also 1966, wurde der Grenzwert zunächst auf 1,3 ‰ herabgesetzt. Dieser Wert hatte immerhin 24 Jahre Bestand, bis der Bundesgerichtshof die Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit im Jahr 1990 schließlich auf den heute noch geltenden Wert von 1,1 ‰ herabsetzte. Seitdem sind immerhin schon wieder 24 Jahre vergangen. Dass wir deshalb bald wieder mit einer weiteren Herabsetzung des Grenzwerts rechnen müssen, scheint nicht ausgeschlossen.
Auch hinsichtlich der Fahruntüchtigkeit anderer Verkehrsteilnehmer hat sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs immer wieder geändert. Während der Bundesgerichtshof noc...