Sofern die Rechtsprechung des BGH zur Zurückhaltung und zum Kerngeschehen beachtet wird, können die nachfolgenden Darlegungen des BGH in der Praxis verwendet werden.
I. Anscheinsbeweis gegen Auffahrenden, Verstoß gegen § 4 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 S. 4 StVO (BGH VersR 1964, 263; NJW 1982, 1595; NJW-RR 2007, 680; NJW 2011, 685)
Freilich ist es ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats, dass bei Unfällen durch Auffahren in der Regel der erste Anschein für das Verschulden des auffahrenden Verkehrsteilnehmers spricht. Da der Kraftfahrer verpflichtet ist, seine Fahrweise so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht, § 3 Abs. 1 StVO, lässt die Erfahrung bei einem Aufprallen auf ein solches Hindernis zunächst den Schluss zu, dass die Ursache dafür in einer schuldhaften Verletzung dieser Verpflichtung zu sehen ist (BGH NJW 1982, 1595).
Ohne Rechtsfehler nimmt das BG auch an, dass der Verkehrsunfall von dem Kl. mitverursacht worden ist. Wer im Straßenverkehr auf den Vorausfahrenden auffährt, war in der Regel unaufmerksam oder zu dicht hinter ihm. Dafür spricht der Beweis des ersten Anscheins (Senat NJW 1982 1595; NJW-RR 1987, 1235 und NJW-RR 1989, 670).
Das Kerngeschehen Auffahrunfall genügt aber nicht (BGH NJW 2012, 608).
II. Anscheinsbeweis gegen Wendenden, Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO (BGH NJW-RR 1986, 384).
Nach der Lebenserfahrung ist dann, wenn ein wendendes Kraftfahrzeug mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs zusammenstößt, die Schlussfolgerung geboten, der Wendende habe sich nicht gem. § 9 Abs. 5 StVO so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. In solchen Fällen liegt deshalb ein typischer Geschehensablauf vor, der auf ein Fehlverhalten des Wendenden als Unfallursache hinweist (BGH NJW-RR 1986, 384).
III. Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Fahrers beim Abkommen von gerader und übersichtlicher Fahrbahn (BGH NJW 1996, 1828 = Urt. v. 19.3.1996 – VI ZR 380/94 (Koblenz) sowie auch BGH NJW-RR 1986, 383 = BGH, Urt. v. 19.11.1985 – VI ZR 176/84 (KG); aber nicht bei Ausweichmanöver)
Die Rechtsgrundsätze zum Anscheinsbeweis dürfen nur dann herangezogen werden, wenn sich unter Berücksichtigung aller unstreitigen und festgestellten Einzelumstände und besonderen Merkmale des Sachverhalts ein für die zu beweisende Tatsache nach der Lebenserfahrung typischer Geschehensablauf ergibt.
An einem derartigen typischen Lebenssachverhalt fehlt es, wenn ein Kraftfahrer zwar von einer geraden und übersichtlichen Fahrbahn abkommt, dies aber in unmittelbarem Zusammenhang damit steht, dass er bei Gegenverkehr von einem anderen Fahrzeug überholt wird, das den Überholvorgang nur knapp zu Ende führen kann (BGH NJW 1996, 1828).
Der Beweis des ersten Anscheins spricht für ein Verschulden des Kraftfahrers, wenn dieser ohne erkennbaren Anlass auf die Gegenfahrbahn gerät und dort mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammenstößt (BGH NJW-RR 1986, 383).
IV. Anscheinsbeweis gegen Überholenden möglich (BGH NJW 1975, 312)
Es richtet sich nach den Umständen des einzelnen Falles, ob bei einem Zusammenstoß zwischen überholendem und überholten Fahrzeug der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des überholenden Fahrers spricht (BGH NJW 1975, 312 = BGH, Urt. v. 26.11 1974 – VI ZR 10/74 (OLG Düsseldorf)).
V. Anscheinsbeweis gegen Spurwechsler, Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO, aber keine Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises bei Auffahrunfall nach Spurwechsel auf Autobahn (BGH NJW 2012, 608 und NJW 2011, 685 jeweils mit Nachweisen zu zahlreichen OLG-Entscheidungen zu diesem Thema)
Bei Auffahrunfällen auf der Autobahn ist ein Anscheinsbeweis regelmäßig nicht anwendbar, wenn zwar feststeht, dass vor dem Unfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im Übrigen nicht aufklärbar ist (BGH NJW 2012, 608 = Urt. v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10 (OLG Nürnberg) jeweils mit weiteren Nachweisen).
VI. Anscheinsbeweis für Abbieger-Verschulden, Verstoß gegen § 9 Abs. 3 StVO (BGH NZV 2007, 294)
Beim Zusammenstoß zwischen einem nach links abbiegenden und einem in Gegenrichtung geradeaus fahrenden Kraftfahrzeug kann für das Verschulden des Abbiegenden der Anscheinsbeweis sprechen (BGH NZV 2007, 294 = Urt. v. 13.2.2007 – VI ZR 58/06 (LG München I)).
Nach § 9 Abs. 3 StVO muss, wer links abbiegen will, entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, dass der Linksabbieger, wenn er seiner hiernach bestehenden Wartepflicht nicht genügt und es deshalb zu einem Unfall kommt, in der Regel, wenn keine Besonderheiten vorliegen, in vollem Umfang oder doch zumindest zum größten Teil für die Unfallfolgen zu haften hat, weil an eine Verletzung des Vorfahrtrechts des geradeaus Fahrenden durch den Linksabbieger ein schwerer Schuldvorwurf anknüpft, wobei für das Verschulden des Abbiegenden der Anscheinsbeweis spricht (Senat, NJW 2005, 1351 mit weiteren Nachweisen).
VII. Anscheinsbeweis bei Vorfahrtspflichtverletzung (BGH NJW 1982, 2668; NJW 1964, 1371; NJW 1976, 1371)
Das klägerische Fahrzeug fuhr plötzlich, ohne die Vorfahrt des Beklagten zu 2) zu beachten, auf die Spur des Beklagten zu 2). Der Beklagte zu 2) konnte nicht mehr ausweichen und den Unfall vermeiden. Es kam zur Kollision. Damit spricht bereits der Anscheinsbeweis für das alleinige Verschulden der Klägerin an der Verursachung des Unfalles (BGH NJW 1982, 2668; BGH NJW 1964, 1371; NJW 1976, 1371).
Der BGH urteilt in NJW 1982, 2668 wörtlich:
Voraussetzung für die Annahme eines Anscheinsbeweises ist … , dass es sich bei der Beweisfrage um einen typischen Geschehensablauf handelt, der unter Verwertung allgemeiner Erfahrungssätze die Bejahung der Beweisfrage nahelegt und damit dem Richter die Überzeugung in vollem Umfang begründet. Ein solcher Erfahrungssatz für eine Vorfahrtverletzung besteht, wenn ein Wartepflichtiger beim Überqueren einer Vorfahrtstraße oder beim Einbiegen nach links mit einem Vorfahrtberechtigten zusammenstößt bzw. wenn es beim Einbiegen nach rechts zu einer Kollision mit einem sich von links ...