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Der Anscheinsbeweis-Klassiker schlechthin im Verkehrsrecht ist der Grundsatz "Wenn es hinten kracht, gibt es vorne Geld." In diesen Fällen spricht nämlich die Typizität des Auffahrunfallgeschehens dafür, dass der Hintermann entweder nicht den erforderlichen Sicherheitsabstand gem. § 4 Abs. 1 StVO zu seinem Vordermann eingehalten hat oder dem Verkehr vor ihm nicht die erforderliche Aufmerksamkeit gewidmet hat.
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So simpel dieser Grundsatz erscheint, so schwierig ist seine praktische Handhabung. Im Jahre 2011 (BGH NJW 2011, 685) und 2012 (BGH NJW 2012, 608) hatte der BGH über zwei Sachverhalte zu entscheiden, bei dem es jeweils zu einem Auffahrunfall gekommen war, wobei aber das jeweilige Vorderfahrzeug zeitlich zuvor einen Spurwechsel durchgeführt hatte. Der BGH hat in diesen beiden Urteilen ausführlich den Streitstand zu der Frage dargestellt, wann der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden sprechen kann oder nicht. Ohne sich in diesen Urteilen klar auf eine der beiden Seiten zu stellen, hat der BGH dennoch deutliche Worte gefunden.
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Die Entscheidungen der Instanzgerichte zeigen aber, dass der BGH anscheinend nicht klar genug war. Beispielhaft seien hier die Entscheidungen des OLG München, Schlussurteil v. 25.10.2013 – 10 U 964/13 BeckRS 2013, 18792 sowie LG Düsseldorf, Urt. v. 29.1.2015 – 21 S 53/14 auf der negativen Seite und die des OLG Saarbrücken NZV 2014, 569; NJW-RR 2014, 1371; BeckRS 2014, 16825 auf der positiven Seite genannt.
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Das LG Düsseldorf 21 S 53/14 folgte entgegen der richtigen Haftungsteilung durch die erste Instanz (AG Düsseldorf, Urt. v. 27.1.2014 – 41 C 2743/13) in der mündlichen Verhandlung der Auffassung der Berufung, dass die alleinige Behauptung eines Spurwechsels durch den Auffahrenden nicht genüge, und sprach dem Kläger 100 % seines Schadens zu. Das Urteil der Kammer vom 29.1.2015 begründet seine gegenteilige Ansicht im Wesentlichen damit, dass in den BGH-Urteilen der Spurwechsel unstreitig gewesen sei. Dies widerspricht der BGH-Rechtsprechung.
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Die Grundsätze zum Anscheinsbeweis anhand der BGH-Urteile werden daher unter Einbeziehung der oben zitierten Urteile der Instanzgerichte ausführlich dargestellt, um sodann die bereits durch den VI. Senat entschiedenen "Fallgruppen" auszugsweise wörtlich wiederzugeben, um sodann die Auswirkungen des Anscheinsbeweises auf die Abwägung darzustellen. Letztlich werden die Auswirkungen auf den Auslandsunfall am Wohngerichtstand kurz dargestellt.
A. Grundlagen
Wie in jedem Prozess muss die darlegungs- und beweisbelastete Partei die ihr günstigen Tatsachen beweisen. Nicht immer helfen die Zeugenaussagen und die unfallanalytischen Gutachten dem Gericht dabei, dass es sich i.S.d. § 286 ZPO von der "einen" Wahrheit überzeugen kann. In diesen Fällen müsste es daher eine Beweislastentscheidung geben. Die Rechtsprechung hat aber bereits frühzeitig die Grundsätze zum sog. Anscheinsbeweis entwickelt. Kann dann eine Partei die ihr günstigen Tatsachen beweisen oder sind diese unstreitig, die typischerweise den Schluss von einer Ursache auf eine bestimmte Folge – also auch ein Verschulden – oder umgekehrt zulassen, so gelingt bereits mit Vorhandensein dieser sog. Anknüpfungstatsachen der Beweis des Verschuldens der Gegenseite hinsichtlich dieses Fehlverhaltens. Der konkrete Geschehensablauf muss nicht geklärt werden, da sich der Anscheinsbeweis von den Feststellungen nach allgemeinen Beweisregeln gerade dadurch unterscheidet, weil von einem typischen Hergang auszugehen ist, solange nicht vom Gegner Tatsachen bewiesen werden oder diese unstreitig sind, welche die ernsthafte Möglichkeit einer anderen Verursachung begründen. Es muss sich dabei nach der Lebenserfahrung um einen allgemeinen Erfahrungssatz handeln, der aber nicht wissenschaftlich zu belegen sein muss. Gefährlich ist es also dann für die Parteien, wenn der Richter seine persönliche Lebenserfahrung mit der allgemeinen Lebenserfahrung gleichsetzt und im Ergebnis einen Schluss zieht, dem keine ausreichende Wahrscheinlichkeit zukommt. Auch wenn ein Richter beispielsweise jedes Mal, wenn er ein Taxi benutzt, die Erfahrung machen würde, dass dieses Taxi mindestens 5–10 km/h zu schnell fährt, kann daraus kein allgemeiner Erfahrungssatz gebildet werden, wonach Taxifahrer immer zu schnell fahren. Umgekehrt kann aufgrund der besonderen Anforderung an die Fahrerlaubnis für Taxifahrer, vgl. § 48 FeV, nicht der Schluss gezogen werden, dass diese nie zu schnell fahren. Fehlerhaft hatte daher im Jahre 1979 das AG München einen Erfahrungssatz aufgestellt, dass ein erfahrener Taxifahrer nicht gegen ein stehendes Fahrzeug fahren würde. Gerade in Verkehrsunfallangelegenheiten hilft der Anscheinsbeweis dem Gericht, um eine objektive Lösung eines Falles zu finden, bei denen aufgrund der Aussagen der Parteien und Zeugen sich das Unfallgeschehen eigentlich so darstellt, als könnten die Parteien nicht an demselben Unfallgeschehen partizipiert haben. Der Anscheinsbeweis ist aber natürlich nicht für das Verkehrsrecht entwickelt worden, ...