Der im Folgenden beschriebene Fall zeigt die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen bei der Verwendung von Crash-Daten im Rahmen der Unfallrekonstruktion auf.
I. Zum Sachverhalt
Auf einer Landstraße ereignete sich eine Gegenverkehrskollision zwischen einem Toyota Auris (Baujahr 2012) und einem Honda Civic Sedan (Baujahr 2012). In dem Strafverfahren gegen den Toyota-Fahrer galt es im Rahmen eines Obergutachtens zu überprüfen, ob der Toyota-Fahrer durch einen Fahrfehler auf die Gegenfahrbahn gekommen ist (Variante 1) oder ob der Honda-Fahrer zuerst auf die Gegenfahrbahn geraten und der Toyota daraufhin nach links ausgewichen ist (Variante 2). Beide Varianten lassen sich in einer Abbildung wie folgt gegenüberstellen:
Obwohl im Rahmen der Unfallaufnahme die Spuren an der Unfallstelle und Schäden an den Fahrzeugen sehr ausführlich dokumentiert wurden, konnte im Rahmen einer klassischen Unfallrekonstruktion keine der beiden Varianten eindeutig ausgeschlossen werden.
Bei diesen beiden unfallbeteiligten Fahrzeugen ergab sich die – heutzutage i.d.R. noch ungewöhnliche – Situation, dass beide Fahrzeuge mit einer Event-Data-Recorder-Funktion (EDR) ausgestattet sind, so dass wesentliche Fahrparameter, wie Fahrzeuggeschwindigkeiten, Lenkwinkel und Bremspedalbetätigung vor der Kollision aufgezeichnet wurden. Die Steuergeräte der Fahrzeuge wurden im Rahmen der Unfallaufnahme ausgelesen und für die Analyse zur Verfügung gestellt.
II. Unfallrekonstruktion mit Hilfe des EDR
Der erste im Verfahren tätige unfallanalytische Sachverständige kam auf Grundlage der Crash-Daten zu dem Schluss, dass der Honda zunächst gar nicht, dann 1 s vor der Kollision leicht und am Ende 0,5 s vor der Kollision verstärkt nach rechts gelenkt hat. Daraus wurde abgeleitet, dass der Unfall für den Honda-Fahrer unvermeidbar war, da das entgegenkommende Fahrzeug innerhalb seiner Reaktions- und Schwellzeit auf seine Fahrbahn geriet. Ein Grund für das Lenkmanöver des Toyota-Fahrers auf die Gegenfahrspur sei aus technischer Sicht nicht zu erklären. Der zweite Sachverständige konnte zwar das Ergebnis des Erstgutachtens nicht ausschließen, stellt jedoch auch eine andere Möglichkeit dar, bei der der Honda zunächst von seiner Spur abkommt und der Toyota-Fahrer daraufhin mit einer Ausweichbewegung nach links reagiert.
Trotz des sehr gut verfügbaren Materials bezüglich des Kollisionsortes, der Geschwindigkeiten und dem Annäherungsverhalten der Fahrzeuge über die gespeicherten Crash-Daten, konnte somit für den vorliegenden Fall im Rahmen von zwei unfallanalytischen Gutachten kein klares Ergebnis gefunden werden. Die Gutachter waren sich uneinig, welche Messdaten relevant oder fehlerhaft waren. Im Rahmen eines Obergutachtens wurden daher die aufgezeichneten Daten detailliert untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass der von dem Honda aufgezeichnete Lenkeinschlag vor der Kollision den entscheidenden Hinweis liefern kann. Diesbezüglich war zu klären, wie genau die dokumentierten Werte zu interpretieren und in der Unfallanalyse zu berücksichtigen sind.
Im Rahmen eines Fahrversuchs wurde daher mit Hilfe eines mit entsprechender Messtechnik ausgestatteten Versuchsfahrzeuges überprüft, welcher zeitliche Zusammenhang zwischen plötzlichem Lenkeinschlag und Fahrzeugbewegung entsteht. Dadurch konnte aufgezeigt werden, dass bei einem plötzlichen Lenkeinschlag die Querbeschleunigung unmittelbar ansteigt, so dass das Fahrzeug deutlich schneller auf die Lenkbewegung reagiert, als dies im 0,5s-Raster der Datenaufzeichnung gespeichert wird. Das Bild wie in der Abbildung ersichtlich zeigt den Messschrieb von Beschleunigungen und Lenkwinkel über die Zeit:
Damit ist bei einem einzelnen gespeicherten Wert einer Lenkwinkeländerung auch mit einer signifikanten Änderung der Querbeschleunigung bzw. Fahrzeugbewegung zu rechnen. Die im Aufzeichnungsintervall von 0,5 s gespei cherten Werte des Lenkwinkels sind somit zwingend für die Unfallanalyse zu berücksichtigen.
Dies führt zu dem Ergebnis, dass der Honda zunächst von seiner Spur auf die Gegenspur geraten sein muss, da unter Berücksichtigung des Lenkmanövers der erarbeitete Kollisionsort ansonsten nicht erreicht werden könnte.
Die Kombination aus einer korrekten Interpretation der Crash-Daten und dessen Berücksichtigung in der Unfallanalyse liefert somit ein schlüssiges Gesamtergebnis, das den Toyota-Fahrer in dem Strafverfahren entlasten konnte. Zu seinen Gunsten war mithin die Variante 2 einschlägig.
III. Bilanz der Auswertung
Die Interpretation der aufgezeichneten Unfalldaten ist damit keineswegs so offensichtlich, wie es zunächst scheint. Um im Rahmen der Messungenauigkeiten verwertbare Schlüsse ziehen zu können sind eigene Untersuchungen und eine umfassende Expertise erforderlich. So bedurfte es im vorliegenden Fall drei unfallanalytischer Gutachten, um trotz der ungewöhnlich guten Dokumentation des Unfallgeschehens und zwei Fahrzeugen mit "Black-Box-Funktion", den Fall abschließend zu klären.
Autor: Dipl. Ing. Robert Dietrich , Münster und RA Dr. Michael Nugel , FA für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht, Essen
zfs 12/2017, S...