Eine ordnungsgemäße Verteidigung auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren erfordert, dass der Verteidiger auf dem selben Wissensstand wie Verfolgungsbehörde und Gericht ist. Denn nur mit der umfassenden Kenntnis des Akteninhalts ist es dem Verteidiger (oder einem beauftragten Sachverständigen) möglich, hinreichend beurteilen zu können, ob und welche Beweisanträge gestellt werden bzw. ob die Fortführung des Verfahrens überhaupt eine Aussicht auf Erfolg bietet. Dieses Recht folgt den Grundsätzen des fairen Verfahrens (hergeleitet aus Art. 20 Abs. 3 GG) sowie aus Art. 6 Abs. 1 EMRK.
Das Zurverfügungstellen der Messunterlagen zur Hinterfragung der Richtigkeit der Messung gerade beim standardisierten Messverfahren ist nach der Rechtsprechung des BGH Grundbedingung, um überhaupt zu einer Anerkennung des Messverfahrens zu kommen (BGHSt 39, 291 [298] i.V.m. BGHSt 28, 235 [239]).
Oberlandesgerichte haben diese Rechtsprechung aber regelmäßig ignoriert, sodass es letztlich der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 27.4.2018 (Az.: Lv 1/18 [DAR 2018, 557]) bedurfte. In dieser Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof der obergerichtlichen Rechtsprechung, die eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts vertrat, eine Absage erteilt. Gleichwohl wollen dies insbesondere das OLG Bamberg (NZV 2018, 80) und das OLG Oldenburg (Beschl. v. 23.7.2018 – 2 Ss OWi 197/18) nicht wahrhaben und halten an ihrer falschen Auffassung fest.
Den Verteidigern, die derart eingeschränkt werden, sei zugerufen, derartige verfassungswidrige Entscheidungen nicht zu akzeptieren, sondern im Falle der Beibehaltung dieser Rechtsprechung die Verfassungsgerichte der Länder oder das Bundesverfassungsgericht anrufen.
Erst durch die Kenntnis der Akte und dort insbesondere die Kenntnis der Messdaten, des Messefilms, der Auswerte-Software usw. lässt sich beurteilen, ob die Messung ordnungsgemäß war. Mit den in aller Regel von den Bußgeldbehörden überlassenen "Aktenfragmenten" ist eine Beurteilung in den meisten Fällen nicht möglich.
Wichtig ist, dass bereits im Verwaltungsverfahren Akteneinsicht beantragt wird und dort für den Fall, dass die angeforderten Unterlagen nicht überlassen werden, ein Antrag nach § 62 OWiG gestellt wird. Führt dies zu keinem Erfolg, ist zwingend der Einsichtsantrag in der Hauptverhandlung zu wiederholen. Denn nur so wird das Gericht gezwungen, einen Gerichtsbeschluss gemäß § 238 Abs. 2 StPO zu erlassen, der die Möglichkeit der Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO) ermöglicht.
Die Verletzung des aus Art. 6 EMRK folgenden Einsichts- und Offenlegungsrechts ist mit der Verfahrensrüge im Rahmen der Rechtsbeschwerde geltend zu machen.