ZPO § 91 Abs. 1 S. 1 u. Abs. 2 S. 1; VV RVG Abs. 1 Nr. 1 der Anm. zu Nr. 3201
Leitsatz
Zur Ersatzfähigkeit der dem Berufungsbeklagten entstandenen Rechtsanwaltskosten, wenn die anwaltliche Tätigkeit (Antrag auf Zurückweisung der Berufung) in Unkenntnis der zwischenzeitlich erfolgten Berufungsrücknahme erfolgt (Abgrenzung zu BGH, Beschl. v. 25.2.2016 – III ZB 66/15, BGHZ 209, 120 [= zfs 2016, 285 m. Anm. Hansens = RVGreport 2016, 186 [Hansens] = AGS 2016, 252]).
BGH, Beschl. v. 10.4.2018 – VI ZB 70/16
Sachverhalt
Der Kl. hatte gegen das seine Klage abweisende Endurteil des LG am 16.6.2016 Berufung eingelegt. Der Berufungsschriftsatz wurde den Prozessbevollmächtigten der Bekl. am 28.6.2016 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 24.6.2016 hat der Kl. seine Berufung wieder zurückgenommen. Dieser Schriftsatz war beim BG, dem OLG München am selben Tage eingegangen, den Beklagtenvertretern wurde er am 5.7.2016 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 1.7.2016, beim OLG München am 6.7.2016 eingegangen, beantragten die Prozessbevollmächtigten der Bekl. die Zurückweisung der Berufung. Das OLG München erlegte dem Kl. gem. § 516 Abs. 3 ZPO durch Beschl. v. 28.6.2016 die Kosten des Berufungsverfahrens auf und setzte den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 70.000 EUR fest.
Die Bekl. beantragten hieraufhin die Festsetzung ihrer außergerichtlichen Kosten für das Berufungsverfahren. Sie haben eine 1,1 Verfahrensgebühr nach Abs. 1 Nr. 1 der Anm. zu Nr. 3201 VV RVG nebst Postentgeltpauschale und Umsatzsteuer geltend gemacht. Auf einen entsprechenden Hinweis der Rechtspflegerin trugen die Anwälte vor, die am 28.6.2016 zugestellte Berufungsschrift habe ein bis zwei Arbeitstage später zur Bearbeitung vorgelegen. Im Auftrag der Bekl. sei wie üblich eine Prüfung der Formalien erfolgt und sodann der Bestellungsschriftsatz diktiert worden, der auf den 1.7.2016 datierte. Somit hätten sie sich vor Zustellung und vor Kenntnisnahme von der Berufungsrücknahme mit dem Berufungsantrag befasst.
Die Rechtspflegerin hat den Kostenfestsetzungsantrag der Bekl. zurückgewiesen. Auf die hiergegen von den Bekl. eingelegte sofortige Beschwerde hat das OLG München dem Kostenfestsetzungsantrag im vollen Umfang stattgegeben und gegen seine Entscheidung die Rechtsbeschwerde zugelassen. Mit ihrer hiergegen gerichteten Rechtsbeschwerde hat der Kl. die Wiederherstellung der landgerichtlichen Entscheidung beantragt. Der BGH hat die Rechtsbeschwerde zurückgewiesen.
2 Aus den Gründen:
"… [8] II. Die nach § 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Beschwerdegericht hat mit Recht trotz der erfolgten Rücknahme der Berufung des Kl. die erstattungsfähigen Rechtsanwaltskosten der (Berufungs-)Beklagten für das Berufungsverfahren in Höhe einer 1,1-fachen Verfahrensgebühr gem. Nr. 3201 VV RVG aus dem Gebührenwert von 70.000 EUR festgesetzt."
[9] 1. Nach § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO hat die unterliegende Partei – und im Fall des § 516 Abs. 3 ZPO der Berufungskläger – die dem Gegner erwachsenen Kosten zu tragen, soweit diese zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren.
[10] 2. Maßstab für die Notwendigkeit von Kosten zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung i.S.d. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO ist, ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftig denkende Partei die Kosten auslösende Maßnahme im damaligen Zeitpunkt als sachdienlich ansehen durfte. Abzustellen ist mithin auf die Sicht der Partei in der konkreten prozessualen Situation und dann zu beurteilen, ob ein objektiver Betrachter aus diesem Blickwinkel die Sachdienlichkeit bejahen würde. Die Notwendigkeit bestimmt sich daher aus der "verobjektivierten" ex-ante-Sicht der jeweiligen Prozesspartei und nicht nach einem rein objektiven Maßstab (BGH, Beschl. v. 7. 2. 2018 – XII ZB 112/17, zfs 2018, 344 m. Anm. Hansens = RVGreport 2018, 178 [Hansens] = AGS 2018, 251 u. Beschl. v. 25.1.2017 – XII ZB 447/16, RVGreport 2017, 143 [ders.] = AGS 2017, 248).
[11] 3. Da die seitens der Prozessbevollmächtigten der Bekl. erbrachte anwaltliche Tätigkeit im Streitfall in Unkenntnis der Berufungsrücknahme erfolgte, war diese Tätigkeit im damaligen Zeitpunkt aus der maßgebenden Sicht einer verständigen und wirtschaftlich vernünftig denkenden Partei zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig i.S.v. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Darauf, dass es der Beauftragung eines Anwalts in Anbetracht der zuvor erfolgten Rücknahme der Berufung objektiv nicht mehr bedurfte, kommt es – entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde – nicht an.
[12] a) Soweit sich die Rechtsbeschwerde zur Begründung ihrer gegenteiligen Auffassung auf einen Beschluss des III. ZS vom 25. 2. 2016 (III ZB 66/15, BGHZ 209, 120–127 = zfs 2016, 285 m. Anm. Hansens = RVGreport 2016, 186 [Hansens] = AGS 2016, 252) stützt, dringt sie nicht durch. In jenem Fall hatte der Berufungsbeklagte durch Zugang des Hinweises gem. § 522 Abs. 2 S. 2 ZPO Kenntnis von der Absicht des Berufungsgerichts erlangt, die Berufung zurückzuweisen. Aus der Sicht einer vernünft...