"… Die vom Einzelrichter zur Fortbildung des Rechts zugelassene und auf den Senat in der Besetzung mit drei Berufsrichtern übertragene Rechtsbeschwerde hat auf die Sachrüge hin Erfolg und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das AG (§ 79 Abs. 6 OWiG)."
Die bisherigen Feststellungen ergeben keinen Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO. Zutreffend geht das AG zwar davon aus, dass der auf eine Autobahn Auffahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs zu beachten hat (OLG Hamm VersR 1994, 952), und zwar auch dann, wenn zähfließender Verkehr und staubedingt “Stop-and-Go-Verkehr' herrscht (LG Essen, Beschl. v. 8.4.2013 – 15 S 48/13, juris). Wie schon die Formulierung im Gesetz “Vorfahrt' zeigt, muss allerdings ein Mindestmaß an Bewegung im Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn der Autobahn geherrscht haben, da ansonsten nicht von “Fahrt' gesprochen werden kann. Steht der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn hingegen, so gibt es keine “Vorfahrt', die Vorrang haben könnte. Bei stehendem Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn würde es auch keinen Sinn machen, den Auffahrenden dazu zwingen zu wollen, eine bestehende – hinreichend große – Lücke zwischen zwei stehenden Fahrzeugen nicht zu nutzen.
Das bedeutet allerdings nicht, dass schon bei jeglichem verkehrsbedingten Halt auf der durchgehenden Fahrbahn – und sei er auch zeitlich noch so kurz – bereits die Vorfahrtsregelung des § 18 Abs. 3 StVO keine Geltung mehr beanspruchen könnte. Erst wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in einer Weise zum Stehen gekommen ist, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen ist, ist das der Fall. Ansonsten würde die Regelung ausgehebelt. Der Senat bestätigt daher ausdrücklich die Rechtsprechung, dass § 18 Abs. 3 StVO auch bei sog. Stop-and-Go-Verkehr gilt.
Nach den Feststellungen des AG stand hier aber der Lkw des Zeugen X. Konkrete Feststellungen zur Dauer dieser Standzeit enthält das Urteil nicht. Aus der Beweiswürdigung in der angefochtenen Entscheidung ergibt sich allerdings, dass der Zeuge X bekundet hatte, dass er etwa drei bis vier Minuten gestanden habe. Sollte tatsächlich eine solch lange Standzeit geherrscht haben, so konnte der Betr. dessen Vorfahrt unter Zugrundelegung der o.g. Grundsätze nicht missachten. Vielmehr musste der Zeuge X beim Anfahren den vor ihm liegenden Fahrweg auf etwaige Hindernisse kontrollieren. Dabei macht es für § 18 Abs. 3 StVO keinen Unterschied, ob der Betr. bereits ganz oder nur teilweise auf der Fahrbahn eingefädelt war.
Der neue Tatrichter wird aufzuklären haben, inwieweit sich das Fahrzeug des Zeugen X in einer Fahrbewegung befand, als der Betr. mit seinem Fahrzeug von der Beschleunigungsspur auf die rechte durchgehende Fahrbahn wechselte. Die Angabe des Zeugen X, sein Abstandsmessgerät habe – als er stand – eine Entfernung von acht Metern zum vor ihm befindlichen Lkw angezeigt, dürfte darauf hindeuten, dass der Betr. sich in einer Fahrbewegung beider Fahrzeug in diese Lücke hat einfädeln wollen. Hätten beide Fahrzeuge zunächst gestanden, so wäre womöglich eine kürzere Abstandsmessung, nämlich vom Fahrzeug des Zeugen X zu dem des Betr. zu erwarten gewesen.
Der neuen Hauptverhandlung vorbehalten bleibt auch die Klärung, ob der Betr. jedenfalls gegen § 1 Abs. 2 OWiG dadurch verstoßen hat, dass er so dicht vor dem (stehenden) Fahrzeug des Zeugen X auf den rechten Fahrstreifen auffuhr, dass dieser ihn wegen des sog. toten Winkels eines Lkw-Fahrers nicht ohne Weiteres wahrnehmen konnte. …“
zfs 12/2018, S. 710 - 711