Richtlinie 2006/126/EG Art. 2 Abs. 1, 7, 12, 15; FeV § 30 § 7 Abs. 1 S. 2 § 28 Abs. 1, 4 S. 1 Nr. 2; ZPO § 418 § 437 Abs. 1; BayVwVfG Art. 26 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 1
Leitsatz
1. Die Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung von durch EU-Mitgliedstaaten erteilten Fahrerlaubnissen gem. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG gilt nicht, wenn entweder Angaben im zugehörigen Führerschein oder andere vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührende unbestreitbare Informationen vorliegen, nach denen das Wohnsitzerfordernis nicht eingehalten wurde (vgl. EuGH, Urt. v. 1.3.2012 – C-467/10, Akyüz – NJW 2012, 1341 Rn 62 = zfs 2012, 359, Leits.; Beschl. v. 9.7.2009 – C-445/08, Wierer – NJW 2010, 217 Rn 51). Solche Informationen können insbesondere Angaben einer Einwohnermeldebehörde des Ausstellungsmitgliedstaats sein (EuGH, Beschl. v. 9.7.2009 a.a.O. Rn 61).
2. Hieraus folgt zum einen, dass es der Behörde nicht verwehrt ist, der Frage nachzugehen, ob der Betr. bei der Erteilung der EU-Fahrerlaubnis tatsächlich seinen ordentlichen Wohnsitz in Tschechien hatte (vgl. EuGH, Urt. v. 26.4.2012 – C-419/10, Hofmann – juris Rn 90 = zfs 2012, 35; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 24.10.2019 – 3 B 26/19 – zfs 2020, 54 = juris Rn 23 f.) und zum andern, dass neben dem Wohnsitzeintrag in dem tschechischen Führerschein auch sonstige Auskünfte der tschechischen Behörden verwertet werden durften.
3. Durch den Eintrag eines im Gebiet des Ausstellungsmitgliedstaats liegenden Wohnorts im Führerschein wird das tatsächliche Innehaben eines Wohnsitzes an diesem Ort nicht positiv und in einer Weise bewiesen, dass die Behörden und Gerichte anderer EU-Mitgliedstaaten dies als nicht zu hinterfragende Tatsache hinzunehmen hätten (vgl. BayVGH, Urt. v. 25.9.2012 – 11 B 10.2427 – NZV 2013, 259 Rn 22 f.). Die Verpflichtung zu gegenseitiger Amtshilfe nach Art. 15 S. 1 der Richtlinie 2006/126/EG vermittelt dem Aufnahmemitgliedstaat vielmehr das Recht, sich bei den Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats über das tatsächliche Bestehen eines ordentlichen Wohnsitzes zu erkundigen; dem steht die Verpflichtung dieses Staats gegenüber, einschlägige Informationen zur Verfügung zu stellen (vgl. BayVGH, Urt. v. 7.5.2015 – 11 B 14.654 – SVR 2015, 469 = juris Rn 33; BVerwG, Beschl. v. 24.10.2019 a.a.O. Rn 24).
4. Die Prüfung, ob Informationen über den Wohnsitz des Fahrerlaubnisinhabers zum Zeitpunkt der Erteilung des Führerscheins als vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührend und unbestreitbar eingestuft werden können, obliegt den Behörden und Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats (vgl. EuGH, Urt. v. 1.3.2012 – Akyüz, C-467/10 – NJW 2012, 1341 Rn 73 und 74; BVerwG, Beschl. v. 24.10.2019 a.a.O. Rn 25). Dabei muss die Begründung eines Scheinwohnsitzes aufgrund der vom Ausstellungsmitgliedstaat stammenden Informationen nicht bereits abschließend erwiesen sein (vgl. BayVGH, Urt. v. 4.3.2019 – 11 B 18.34 – juris Rn 21 m.w.N.; Beschl. v. 12.1.2018 – 11 CS 17.1257 – juris Rn 10; Beschl. v. 23.1.2017 – 11 ZB 16.2458 – juris Rn 12; OVG NRW, Beschl. v. 9.1.2018 – 16 B 534/17 – juris Rn 14 ff. m.w.N). Vielmehr reicht es aus, wenn diese Informationen darauf "hinweisen", dass der Inhaber des Führerscheins im Gebiet des Ausstellungsmitgliedstaats einen rein fiktiven Wohnsitz allein zu dem Zweck begründet hat, der Anwendung der strengeren Bedingungen für die Ausstellung eines Führerscheins im Mitgliedstaat seines tatsächlichen Wohnsitzes zu entgehen (vgl. EuGH, Urt. v. 1.3.2012 a.a.O. Rn 75). Dann können die Behörden und Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats auch inländische Umstände zur Beurteilung der Frage, ob die Wohnsitzvoraussetzung eingehalten ist, heranziehen (st. Rspr vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.10.2019 a.a.O. Rn 25; BayVGH, Urt. v. 4.3.2019 a.a.O. Rn 20; Beschl. v. 12.1.2018 a.a.O. Rn 10; Beschl. v. 23.1.2017 a.a.O. Rn 12; OVG NRW, Beschl. v. 9.1.2018 a.a.O. Rn 14 ff.).
5. Nach diesen Maßgaben ist nicht zu beanstanden, wenn das VG die Auskunft des Gemeinsamen Zentrums der deutsch-tschechischen Polizei- und Zollzusammenarbeit, deren tschechische Dienstkräfte unmittelbar Zugriff auf die zentrale Einwohnermeldedatei haben (BayVGH, Urt. v. 7.5.2015 a.a.O. Rn 35), als vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührende unbestreitbare Information herangezogen hat (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.10.2019 a.a.O. Rn 30).
6. Erwägungen, wonach der nur für kurze Dauer angemeldete Wohnsitz auf einen Scheinwohnsitz hindeute, sind grds. nicht zu beanstanden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.10.2019 a.a.O. Rn 30).
7. Die Behörde und das Gericht sind im Verwaltungsverfahren bzw. Verwaltungsprozess nicht auf bestimmte (förmliche) Beweismittel beschränkt.
(Leitsätze der Schriftleitung)
BayVGH, Beschl. v. 10.7.2020 – 11 ZB 20.88
zfs 12/2020, S. 716 - 717