SGG § 73a Abs. 1 S: 1; ZPO § 119 Abs. 1 S: 2; GG Art. 3 Abs. 1 20 Abs. 5
Leitsatz
1. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint.
2. Es verstößt jedoch gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG, wenn das Gericht die Regelung des § 119 Abs. 1 S. 2 ZPO, wonach in einem höheren Rechtszug nicht zu prüfen ist, ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint, wenn der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat, ohne besondere Begründung hierfür nicht anwendet.
(Leitsätze der Schriftleitung)
BVerfG, Beschl. v. 9.7.2020 – 1 BvR 1571/19
Sachverhalt
Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hatte beim zuständigen SG einstweiligen Rechtsschutz beantragt, um vorläufig volle Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu erhalten. Das SG hatte diesen Antrag positiv beschieden und den Landkreis verpflichtet, weitere Leistungen zu gewähren. Hiergegen hat der Landkreis Beschwerde eingelegt. Das LSG Baden-Württemberg hat der Beschwerde abgeholfen, jedoch dem Kläger die beantragte PKH für das Beschwerdeverfahren mangels hinreichender Erfolgsaussicht gem. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO versagt.
Die von dem Kläger gegen die Versagung der PKH eingelegte Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
2 Aus den Gründen:
"… II."
[6] Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der abgelehnten Prozesskostenhilfe zulässig und begründet. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers auf Rechtsschutzgleichheit angezeigt. Das kann die Kammer entscheiden (§ 93c Abs. 1 BVerfGG); die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das BVerfG bereits geklärt (BVerfGE 1, 109 ff.; 22, 83, 86; 63, 380, 394 f.; 81, 347, 357; 92, 122, 123; st. Rspr.).
[7] 1. Die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des LSG, dem Beschwerdeführer in der zweiten Instanz keine Prozesskostenhilfe zu bewilligen, ist zulässig.
[8] (…) Die Verfassungsbeschwerde genügt im Ergebnis den aus § 23 Abs. 1 S. 2 1. Hs. und § 92 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen (…).
[9] 2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffene Entscheidung des LSG Baden-Württemberg verletzt den Beschwerdeführer in der von Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG grundrechtlich geschützten Rechtsschutzgleichheit, soweit der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt worden ist.
[10] a) Das Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG gebietet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (dazu BVerfGK 19, 384, 386). Das Grundrecht zielt also auf Gleichbehandlung mit denen, die ihre Prozessaussichten vernünftig abwägen und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigen (vgl. BVerfGE 78, 104, 117 f.; 81, 347, 357; 117, 163, 187; st. Rspr.). Die entsprechende Prüfung darf jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe zu verlagern; es will den Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (vgl. BVerfGE 81, 347, 357). Dabei verfügen die Fachgerichte über einen Entscheidungsspielraum bei der Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen, dürfen aber einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht unverhältnismäßig erschweren (vgl. BVerfGE 81, 347, 358).
[11] b) Hier hat das Fachgericht seinen Entscheidungsspielraum zu Lasten des Beschwerdeführers offensichtlich überschritten.
[12] Für den Prozess vor den Sozialgerichten ordnet § 73a Abs. 1 S. 1 SGG die entsprechende Geltung der Vorschriften der ZPO über die Prozesskostenhilfe an. Gem. § 119 Abs. 1 S. 1 ZPO erfolgt die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für jeden Rechtszug besonders. In § 119 Abs. 1 S. 2 ZPO ist geregelt, dass in einem höheren Rechtszug nicht zu prüfen ist, ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint, wenn der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat. Das LSG hat diese offensichtlich einschlägige Norm nicht angewandt. Der Beschwerdeführer obsiegte in erster Instanz vor dem Sozialgericht und die unterlegene Behörde legte dagegen Beschwerde ein. Dennoch stützt sich das LSG einzig auf § 114 ZPO und damit auf mangelnde Erfolgsaussichten in der Hauptsache.
[13] Zwar ist es nicht völlig ausgeschlossen,...