StPO § 147 § 305 S. 1
Leitsatz
Ohne die Beschwerdemöglichkeit gegen eine amtsgerichtliche Entscheidung über die Nichtgewährung von Akteneinsicht besteht die Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Rechtsbeschwerdeverfahren keine Möglichkeit mehr hat, die fehlende ergänzende Akteneinsicht durch Herbeischaffung der Messreihe zu rügen. Um zu vermeiden, dass der Beschwerdeführer damit einen nicht mehr behebbaren Rechtsverlust erleidet, kann zulässigerweise Beschwerde eingelegt werden.
LG Hagen, Beschl. v. 30.9.2021 – 46 Qs 59/21
Sachverhalt
Gegen den Betroffenen erging wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung ein Bußgeldbescheid. Nach Abgabe des Verfahrens an das Amtsgericht bestellte sich der Verteidiger und begehrte die Vorlage verschiedener Unterlagen des Messvorganges, unter anderem die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe mit Statistikdateien und Case-Listen und begründete dies. Mit Beschluss hat das Amtsgericht Schwelm entschieden, dass der Verteidigung eine Vielzahl weiterer beantragter Unterlagen vorzulegen seien, nicht allerdings die vollständige Messreihe, die Statistikdatei und Case-Listen. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass nicht dargelegt sei, welche Informationen aus der Messreihe entnommen werden sollen und welche Rückschlüsse auf eine fehlerhafte Messung gegenüber dem Beschwerdeführer sich aus der Messreihe ergeben würden. Das LG Hagen hat auf die Beschwerde des Betroffenen den Beschluss des Amtsgerichts Schwelm aufgehoben, soweit eine Zurückweisung des Antrags im Übrigen erfolgte, und die Zentrale Bußgeldstelle angewiesen, dem Verteidiger folgende Daten auf einem von ihm bereitgestellten Speichermedium zur Verfügung zu stellen: Die digitalen Falldatensätze der gesamte Messreihe samt Case-List(en) und Statistikdatei(en).
2 Aus den Gründen:
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
1. Das Amtsgericht hat ausgeführt, dass die Beschwerde gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 OWiG und angesichts der ständigen Rechtsprechung des Landgerichts Hagen unzulässig sei. Dies ist unrichtig.
Zum einen findet § 62 Abs. 2 S. 2 OWiG [das LG Hagen dürfte sich auf § 62 Abs. 2 S. 3 OWiG beziehen; d. Schriftl.] auf die vorliegende Fallkonstellation keine Anwendung, Denn § 62 OWiG begründet Regelungen, die im Zusammenhang mit Anträgen auf gerichtliche Entscheidungen gegen Maßnahmen der Verwaltungsbehörde im Bußgeldverfahren stehen (vgl. Kurz in: KK-OWiG, 5. Auflage 2018, § 62 Rn 3; Krenberger/Krumm, OWiG, 6. Auflage 2020, § 62 Rn 1; LG Würzburg, Beschl. v. 29.12.2020 – 1 Qs 253/20, juris). Ein derartiger Antrag wurde hier jedoch gar nicht gestellt. Eine "ständige Rechtsprechung" des Landgerichts Hagen zur Zulässigkeit der vorliegend eingelegten Beschwerde, die passenderweise durch das Amtsgericht nicht zitiert wurde, existiert darüber hinaus nicht.
Zum anderen ist die Beschwerde auch nicht gemäß § 305 S. 1 StPO unzulässig. Nach dieser Regelung unterliegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen nicht der Beschwerde. Die Regelung bezweckt Verfahrensverzögerungen zu verhindern, die eintreten, sofern Entscheidungen der erkennenden Gerichte sowohl auf eine Beschwerde als auch auf das Rechtsmittel gegen das Urteil überprüft werden müssten. Dieser Ausschluss gilt allerdings nur für Entscheidungen, die in innerem Zusammenhang mit der Urteilsfällung stehen, ausschließlich ihrer Vorbereitung dienen, bei der Urteilsfällung selbst der nochmaligen Prüfung des Gerichts unterliegen und keine weiteren Verfahrenswirkungen äußern (vgl. OLG Saarbrücken, Beschl. v. 21.5.2015 – 1 Ws 80/15, Rn 10, juris; Schmitt in: Meyer-Goßner, StPO, 64. Auflage 2021, § 305 Rn 1). Indes wird die Frage, ob die Nichtherausgabe der vollständigen Messreihe eines Geschwindigkeitsmessgerätes durch die Möglichkeit eines Rechtsbeschwerdeverfahrens bzw. der Zulassung der Rechtsbeschwerde überhaupt geprüft werden kann, von verschiedenen Oberlandesgerichten unterschiedlich beurteilt (vgl. OLG Oldenburg, Beschl. v. 6.5.2015 – 2 Ss (OWi) 65/15; OLG Bamberg, Beschl. v. 4.4.2016 – 3 Ss OWi 1444/15). Ohne die Beschwerdemöglichkeit besteht daher die Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Rechtsbeschwerdeverfahren keine Möglichkeit mehr hat, die fehlende ergänzende Akteneinsicht durch Herbeischaffung der Messreihe zu rügen. Um zu vermeiden, dass der Beschwerdeführer damit einen nicht mehr behebbaren Rechtsverlust erleidet, kann vorliegend zulässigerweise Beschwerde eingelegt werden (vgl. LG Kaiserslautern, Beschl. v. 22.5.2019 – 5 Qs 51/19, Rn 9 f.).
2. Die Beschwerde ist begründet.
Der Verteidigung steht im vorliegenden Fall ein Recht auf ergänzende Akteneinsicht durch Überlassung der vollständigen Messreihe nebst Statistikdatei und Case-Listen zu. Dieses Recht folgt daraus, dass in einem rechtsstaatlichen Verfahren die Möglichkeit bestehen muss, auch Aktenbestandteile zu erhalten, die vorhanden sind, sich aber nicht bei der Verfahrensakte befinden, weil beispielsweise die Verwaltungsbehörde oder das Gericht deren Hinzuziehung nicht für erforderlich erachtet hat. Diese...