OWiG § 51 Abs. 1 S. 1; ZPO § 178 Abs. 1
Leitsatz
1. Eine wirksame Ersatzzustellung in einem Fall nach § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO setzt zwingend voraus, dass der Betroffene im Zeitpunkt der Zustellung unter der Anschrift – hier einer Maßregelvollzugseinrichtung – auch gewohnt hat.
2. Die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde erstreckt sich nicht auf die Frage, wo der Zustellungsempfänger tatsächlich wohnt, sondern begründet insoweit lediglich eine Vermutung. Diese Vermutung ist nicht von dem Betroffenen "schlüssig" zu widerlegen, sondern von Amts wegen aufzuklären. (Leitsatz der Redaktion)
AG Eilenburg, Beschl. v. 1.8.2023 – 8 OWi 392/23
1 Sachverhalt
Gegen den Betroffenen ist am 26.1.2023 ein Bußgeldbescheid ergangen. Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde der Bußgeldbescheid am 30.1.2023 unter der Anschrift […] (= Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie) einem dort Beschäftigten übergeben, weil der Adressat bzw. ein Vertretungsberechtigter in dem Geschäftsraum nicht erreicht worden sei. Der Betroffene war zunächst in der Zeit vom 22.2.2021 bis 22.6.2021 gemäß § 126a StPO vorläufig in der Maßregelvollzugseinrichtung untergebracht. Seit dem 22.6.2021 war er nach der rechtskräftigen Entscheidung des LG gemäß den §§ 20, 63 StGB in dem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Seit dem 16.1.2023 hält sich der Betroffene im Rahmen der Unterbringung zum Zwecke des Probewohnens in der Wohnstätte […] auf.
Gegen den Bußgeldbescheid hat der Betreuer des Betroffenen mit am 22.2.2023 bei der Verwaltungsbehörde eingegangenem Schreiben Einspruch eingelegt und hilfsweise einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt. Der Betreuer trägt vor, dass ihm sowie dem Betroffenen der Bußgeldbescheid erst am 9.2.2023 durch einen Mitarbeiter der Maßregelvollzugseinrichtung übergeben worden sei. Die Verwaltungsbehörde hat den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid vom 26.1.2023 als unzulässig verworfen. Der Betreuer stellte einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung, dem die Verwaltungsbehörde nicht abgeholfen hat. Das AG hat den Verwerfungsbescheid aufgehoben.
2 Aus den Gründen:
[…] II. Der gemäß §§ 62, 69 Abs. 1 Satz 2 OWiG zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Antrag hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der Verwerfungsbescheid vom 6.7.2023 ist gemäß § 62 Abs. 2 S. 2 OWiG i.V.m. § 309 Abs. 2 StPO aufzuheben, da der Einspruch des Betreuers des Betroffenen vom 22.2.2023 nicht gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 OWiG wegen Verfristung als unzulässig verworfen werden durfte. Um eine Verfristung annehmen zu können, bedarf es der Bestimmung von Fristanfang und Fristende der Einspruchsfrist. § 67 Abs. 1 Satz 1 OWiG bestimmt insoweit, dass der Betroffene gegen den Bußgeldbescheid innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung schriftlich oder zur Niederschrift bei der Verwaltungsbehörde, die den Bußgeldbescheid erlassen hat, Einspruch einlegen kann. Zentrales Element der Bestimmung des Fristbeginns der zweiwöchigen Einspruchsfrist ist damit die Zustellung des Bußgeldbescheides an den Betroffenen. Dies richtet sich gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG i.V.m. § 4 Abs. 1 SächsVwVfZG i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG nach den §§ 177 bis 182 der Zivilprozessordnung.
a) Anders als die Verwaltungsbehörde meint, stellt die mittels Postzustellungsurkunde dokumentierte Übergabe des Schriftstücks am 30.1.2023 an einen in der Maßregelvollzugseinrichtung unter der Anschrift […] beschäftigten Mitarbeiter keine wirksame (Ersatz-)Zustellung an den Betroffenen dar. Sofern die Person, der zugestellt werden soll, in ihrer Wohnung, in dem Geschäftsraum oder in einer Gemeinschaftseinrichtung, in der sie wohnt, nicht angetroffen wird, kann das Schriftstück gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG i.V.m. § 4 Abs. 1 SächsVwVfZG i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG i.V.m. § 178 Abs. 1 ZPO zugestellt werden, (1.) in der Wohnung einem erwachsenen Familienangehörigen, einer in der Familie beschäftigten Person oder einem erwachsenen ständigen Mitbewohner, (2.) in Geschäftsräumen einer dort beschäftigten Person oder (3.) in Gemeinschaftseinrichtungen dem Leiter der Einrichtung oder einem dazu ermächtigten Vertreter. Von § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO sind dabei u.a. neben Alten-, Lehrlings-, Arbeiterwohnheimen, Obdachlosenunterkünfte auch Krankenhäuser, Kasernen, Justizvollzugsanstalten und ähnliche Einrichtungen umfasst. Der Zustellungsadressat muss hier "wohnen" (vgl. nur MüKoZPO/Häublein/Müller, 6. Aufl. 2020, ZPO § 178 Rn 27).
Eine wirksame Ersatzzustellung in dem hier einschlägigen Fall nach § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO setzt damit zwingend voraus, dass der Betroffene im Zeitpunkt der Zustellung unter der Anschrift auch gewohnt hat. Die Wohnung im Sinne der Zustellungsvorschrift ist der räumliche Lebensmittelpunkt des Zustellungsempfängers. Maßgeblich ist, ob der Zustellungsempfänger hauptsächlich in den Räumen lebt und insbesondere, ob er dort schläft. Die melderechtlichen Verhältnisse haben für den tatsächlichen Begriff des Wohnens nur unwesentlich Bedeutung (vgl. nur BGH, Urt. v. 24.11.1977 – II ZR 1/76; KG, Beschl. v. 4.12.1998 – 2 Ss 360/98 – 3 Ws (B) 615/98 –, ...