OWiG § 80 § 77 Abs. 2 Nr. 1
Leitsatz
1. Eine lediglich prozessordnungswidrige Behandlung von Beweisanträgen stellt noch keine Verweigerung rechtlichen Gehörs dar. Nur die willkürliche Ablehnung eines Beweisantrags, also die Ablehnung eines Beweisantrags ohne nachvollziehbare, auf das Gesetz zurückführbare Begründung, die unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist, verletzt das rechtliche Gehör. Gleiches gilt für eine Verletzung der Aufklärungspflicht.
2. Es ist zirkulär, den gegen das Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens vorgebrachten Einwand gerade unter Hinweis auf die Standardisierung abzutun. Diese Zirkelschlüssigkeit stellt sich als willkürlich dar. (Leitsatz der Redaktion)
OLG Köln, Beschl. v. 11.5.2023 – 1 ORBs 130/23
1 Sachverhalt
Gegen den Betroffenen erging wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften ein Bußgeld in Höhe von 115 EUR. Nach Einspruch wurde die Geldbuße im Abwesenheitsverfahren auf 125 EUR erhöht. Im Termin zur Hauptverhandlung hat der Verteidiger des Betroffenen den nachfolgenden Antrag gestellt: "Der im Lichtbild eingeblendete Abstand der von der Messsonde gemessenen 4,6 m ist nicht plausibel, da aufgrund der Position des Fahrzeuges der Abstand höchstens 4,3 m betragen haben kann und insofern der Verdacht besteht, dass nicht das Fahrzeug des Betroffenen, sondern dass vor dem Betroffenen fahrende Fahrzeug gemessen worden ist. Zum Beweis hierfür beantrage ich die Einholung eines Sachverständigen-Gutachtens."
Zur Erläuterung hat er ausgeführt, dass ausweislich des Messprotokolls der Abstand der Messsonde vom Fahrbahnrand 290 cm und die Fahrbahnbreite 636 cm betrugen. Da der Betroffene auf der zur Messsonde nächstgelegenen Fahrbahnhälfte gefahren sei, sei die Fahrbahnbreite von 636 cm zu halbieren. Daraus ergebe sich ein Wert von 318 cm. Ziehe man die Breite des Pkw mit geschätzten 170 cm sowie den Abstand des Pkw von der Mittellinie mit geschätzten 10 cm ab, so ergebe sich ein Abstand vom Fahrbahnrand von 138 cm (318 cm – 170 cm – 10 cm). Addiere man nun den im Messprotokoll protokollierten Abstand der Messsonde vom Fahrbahnrand mit 290 cm hinzu, so ergebe sich ein Abstand der Messsonde zum gemessenen Fahrzeug des Betroffenen von 428 cm (4,28 m). Aus der Datenzeile im Messfoto ergebe sich demgegenüber ein Abstand von 4,6 m, was nicht plausibel sei.
Das Amtsgericht hat den Antrag mit folgendem Beschluss zurückgewiesen: "Der Beweisantrag wird gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abgewiesen. Vorliegend handelt es sich um ein zugelassenes standardisiertes PTB-Messverfahren, sodass eine Überprüfung durch den Sachverständigen nicht erforderlich ist."
Das OLG hat auf den entsprechenden Antrag des Betroffenen hin die Rechtsbeschwerde wegen Versagung des rechtlichen Gehörs zugelassen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
2 Aus den Gründen:
[…]
II. Der in formeller Hinsicht unbedenkliche Zulassungsantrag führt in der Sache mit der ordnungsgemäß erhobenen Rüge der Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 80 As. 1 Ziff. 2 OWiG) zum Erfolg.
1. a) Ihr liegt das folgende Verfahrensgeschehen zu Grunde: [… s.o. …]
b) Die Ausführungen der Rechtsbeschwerde genügen den Darlegungsanforderungen der §§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 344 Abs. 2 S. 2 StPO.
Soweit mit dem Antrag lediglich ein "Verdacht" geäußert und also – ersichtlich mangels entsprechender Kenntnis – nicht eine Beweistatsache konkret behauptet wird, vermag dies nichts daran zu ändern, dass es sich um einen echten Antrag (und nicht nur um eine unverbindliche Anregung) handelt, mit dem der Antragsteller einen Anspruch auf antragsgemäße Sachverhaltsaufklärung geltend macht und diese in eine bestimmte Richtung zu lenken beabsichtigt (MüKo-StPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn 171). Maßstab für die Behandlung des Antrags ist die Amtsaufklärungspflicht.
Die Rechtsbeschwerdebegründung verhält sich auch zum Stand der Beweisaufnahme im Übrigen sowie zu einem für den Betroffenen günstigen Ergebnis des Beweisbegehrens (zu den Darlegungsanforderungen vgl. OLG Köln NStZ 2021, 125). Da – wie zu zeigen sein wird – der Betroffene konkrete Einwendungen gegen das Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens erhoben hat, musste sich das Tatgericht zu der begehrten Beweiserhebung auch gedrängt sehen (dazu vgl. OLG Köln, Beschl. v. 18.12.2013 – III-1 RBs 304/13; Beschl. v. 18.7.2017 – III-1 RBs 202/17; OLG Hamm VM 2007, 51 [Nr. 56]; OLG Celle zfs 2009, 593).
2. Angesichts dieses Verfahrensgeschehens ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, da das angefochtene Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben ist (§ 80 Abs. 1 Ziff. 2 OWiG).
Allerdings bietet Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen Eine lediglich prozessordnungswidrige Behandlung von Beweisanträgen stellt daher noch keine Verweigerung rechtlichen Gehörs dar. Nur die willkürliche Ablehnung eines Bewe...