HaftPflG § 1 § 6; StVG § 17; StVO § 19
Leitsatz
1. Bei einem Zusammenstoß von Kfz und Bahn infolge geöffneter Schranken haftet der Bahnbetreiber im Grundsatz alleine. Eine Mithaftung auf Seiten des beteiligten Pkws kommt nur dann in Betracht, wenn der herannahende Zug für den Kfz-Fahrer erkennbar gewesen ist.
2. Die Beweislast für die optische und/oder akustische Erkennbarkeit eines herannahenden Schienenfahrzeugs für den Straßenverkehr einschließlich der Wahrnehmbarkeit akustischer Warnsignale, hier für ein rechtzeitiges Betätigen des Makrofons durch den Zugführer, liegt bei den beteiligten Eisenbahnunternehmen.
3. Es liegt grundsätzlich ein erhebliches Organisationsverschulden des für die Bahnstrecke verantwortlichen Unternehmens der Deutschen Bahn vor, wenn es an einem Bahnübergang in weniger als einem Monat zu 15 Störungsfällen und schließlich zu einer Kollision zwischen Bahn und Pkw wegen der defekten Bahnübergangssicherungsanlage (BÜSA) deswegen kommt, weil bis zur Klärung der Ursache der Störungsserie keine zusätzlichen Sicherungsmaßnahmen für den betroffenen Bahnübergang getroffen worden sind.
4. Zur Erhöhung des Schmerzensgeldes aufgrund eines nicht nachvollziehbaren Regulierungsverhaltens (hier: Komplettverweigerung bei erheblicher Mitverantwortung für ein Unfallgeschehen trotz schwerer Verletzungen der Geschädigten).
OLG Celle, Urt. v. 31.1.2023 – 14 U 133/22
1 Sachverhalt
I. Die am … 1952 geborene Klägerin nimmt die Beklagten als Gesamtschuldner auf Schadensersatz und Schmerzensgeld aus einem Schienenbahnunfall in Anspruch.
Am Freitag, den 2.8.2019, befuhr die Klägerin auf dem Weg zum Zahnarzt mit ihrem Pkw Opel Corsa, … , in R.-E. die B. Straße Richtung B … Gegen 10:42 Uhr erreichte sie den Bahnübergang in Höhe des Bahnkilometers … der Eisenbahnstrecke von H. O. nach R., Streckennummer …
Der Übergang führte über die eingleisige nicht elektrifizierte Bahnlinie. Dort galt in beiden Fahrtrichtungen eine Höchstgeschwindigkeit für Züge von 120 km/h. Der Bahnübergang war gesichert mit Andreaskreuz, Halbschranken auf beiden Seiten und einer Lichtzeichenanlage. Verbaut war eine sog. Bahnübergangssicherungsanlage (künftig auch: BÜSA) der Fa. S. und B. mit Einheits-Bahnübergangstechnik (EBÜT) aus den 1980-er Jahren. Diese BÜSA wurde nicht vom Fahrdienstleiter oder Schrankenwärter bedient, sondern durch Überfahren eines Einschaltkontaktes durch den Zug aktiviert. Der Kontakt war aus Richtung H. O. kommend am Bahnkilometer … angebracht. Wenn beim Überfahren dieses Kontaktes eine Störung auftrat, wurde diese nicht dem Triebwagenführer angezeigt, sondern lief bei dem zuständigen Fahrdienstleiter in R. auf, der dann den Zugführer über Funk verständigen musste.
Dort waren am 2.8.2019 gegen 10:42 Uhr aufgrund einer technischen Störung die Schranken offen, die Lichtanlage war außer Funktion. Zugleich funktionierte auch die Noteinschaltung nicht.
Die Bahnstrecke wurde zu dieser Zeit befahren in Richtung R. von der … Bahn (…), RB … , Zugnummer … , gesteuert von dem Zugführer und Zeugen K. B. Er näherte sich dem oben genannten Bahnübergang mit einer Geschwindigkeit von etwa 116 km/h. Dabei war dem Zugführer bis zu diesem Zeitpunkt der Ausfall der Schranken und der Signale nicht bekannt. Zuständiger Fahrdienstleiter für den Übergang war Herr R. P., der sich in seinem Kontrollraum in R. befand. Ca. 175 m vor dem Übergang löste der Zeuge B. eine Schnellbremsung aus, nachdem er die offenstehenden Schranken bemerkt hatte. Der RB … wurde daraufhin etwas langsamer, fuhr beim Erreichen des Übergangs aber immer noch 96 km/h schnell. Zwischen den Parteien ist streitig, ob und ggf. wann und wie lange der Zeuge B. zusätzlich das Makrofon, die Hupe des Zuges, betätigt hat.
Auf dem Bahnübergang kam es zur Kollision zwischen dem RB … und dem von der Klägerin gesteuerten Pkw Opel Corsa. Das Auto wurde vom Zug auf der Beifahrerseite erfasst und zunächst durch die Luft gegen zwei dort abgestellte DB-Fahrzeuge geschleudert, ehe es sich teilweise um die eigene Achse drehte und erheblich deformiert und beschädigt in umgekehrter Fahrtrichtung zwischen den DB-Fahrzeugen und dem Schrankenantrieb zum Stehen kam.
Zur Zeit des Unfalls befanden sich die beiden Mitarbeiter B. K. und M. W. der Beklagten zu 2) im Bereich des Bahnübergangs.
Die Klägerin wurde bei dem Zusammenstoß schwer verletzt. Sie musste von Feuerwehrleuten aus dem Fahrzeugwrack ihres Pkw befreit werden. Die Klägerin erlitt bei dem Unfall ein Polytrauma mit gedecktem Schädelhirntrauma und multiple Kontusionsblutungen rechts frontal und temporal, weiter eine Rippenserienfraktur rechts, mit traumatischem Pneumohämatothorax rechts, eine ausgedehnte Rissquetschwunde am distalen Oberarm rechts, eine Radiusköpfchenfraktur mit Gelenkbeteiligung und knöcherner Absprengung am Olekranon rechts (Ellenbogenhöcker an der Spitze des Ellenbogens) und eine Milzkontusion. Die Olekranon-Fraktur wurde noch am Unfalltag operativ versorgt. Die Klägerin wurde vom 2.8.2019 bis 26.8.2019 im Krankenhaus M. stationär behandelt. Nach der ...